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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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gefährdeter Bevölkerungen auf internationaler und nationaler Ebene werden. Schließlich macht unsere Interdependenz uns zu mehr als nur denkenden Wesen; sie macht uns zu sozialen und verkörperten, verletzlichen und leidenschaftlichen Wesen. Unser Denken führt uns ohne die Voraussetzung eben dieser Interdependenz nirgendwo hin. Unser Denken basiert auf einem körperlichen Leben, das sich niemals ganz in irgendeine Privatsphäre einschließen lässt; tatsächlich setzt politisches Denken den Körper und sein »Inerscheinungtreten«, wie Arendt selbst sagt, voraus. Arendt war klar der Auffassung, Denken könne uns an andere binden und uns damit ein Verständnis des sozialen Bandes eröffnen, dem wir schon in dem Moment verpflichtet sind, in dem wir zu denken beginnen.
    Indem Arendt sich hier ganz auf die Form der souveränen Entscheidung beschränkt und zeigt, worin eine gute Entscheidung besteht, ja indem sie eine solche performativ nach dem Modell des gerechten Souveräns vollzieht, hat sie sich von den Gleichheits-, Pluralitäts- und Verallgemeinerungsvorstellungen verabschiedet, die für ihre Sozialontologie und für den Nutzen ihrer Theorie für eine demokratische Politik maßgeblich sind. Ich will weder sagen, dass sie sich dem souveränen Akt auf Kosten der kollektiven Gestaltung verschreibt, noch, dass sie sich für gesellschaftliche Abwägungsprozesse auf Kosten der souveränen Tat und Wahl entscheidet. Was ich sagen will, istvielmehr, dass sie zwischen beidem schwankt und dass diese Spannung sich in ihrem Denken unauflöslich zu wiederholen scheint.
    Betrachten wir folgende Äußerung aus ihrem Text »Persönliche Verantwortung in der Diktatur«: »Die ziemlich optimistische Ansicht der menschlichen Natur, die so deutlich nicht aus dem Urteil der Richter des Jerusalemer Prozesses, sondern aus allen Nachkriegsprozessen spricht, setzt eine von Gesetz und öffentlicher Meinung unabhängige menschliche Fähigkeit voraus, die in voller Spontaneität jede Tat und jede Absicht immer wieder neu beurteilt.« Dann spekuliert sie weiter: »Vielleicht besitzen wir eine solche Fähigkeit und vielleicht sind wir Gesetzgeber, jeder einzelne von uns, wann immer wir handeln.« Mithilfe dieses gerade formulierten Standards beurteilt sie dann aber die Richter als inadäquat: »Trotz aller Rhetorik meinten sie kaum mehr, als dass uns ein Gefühl für diese Dinge seit so vielen Jahrhunderten eigen ist, dass es nicht mehr verlorengehen konnte.« 157 In ihren »Fragen der Moralphilosophie« stellt sie klar, dass zumindest dieser Teil von Kants Denken in Schutz genommen und gegen den Nazi-Gehorsam gewendet werden muss. Einmal mehr formuliert sie ihre Norm vermutungsweise: »Sofern man von mir überhaupt sagen kann, dass ich dem Kategorischen Imperativ folge, bedeutet das, dass ich meiner eigenen Vernunft gehorche … Ich bin der Gesetzgeber, Sünde oder Verbrechen lassen sich nicht mehr als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz anderer definieren, sondern ganz im Gegenteil als Weigerung, meinen Teil als Gesetzgeber der Welt zu tun.« 158
    Wie würde sich ein solcher Gesetzgeber in der Sphäre der Pluralität verhalten? Er müsste vielleicht seine Stimme spalten und seine Souveränität streuen. Möglicherweise lässt sich Souveränität letztlich nicht mit Pluralität oder einer föderalen Regierungsform vereinbaren. Dieser Schluss hängt aber auch davon ab, wie wir die Souveränitäts- und die Pluralitätsdimension des Handelns verstehen.
    Ich möchte die Argumentation für diese Konzeption nicht vollständig entwickeln, schlage aber vor, auf die Unterscheidung zurückzukommen, die wir im vorangegangenen Kapitel getroffen haben, die Unterscheidung, die Arendt in ihrer Erwiderung auf Scholems Vorwurf einführt, sie hege keine Liebe für das jüdische Volk. Die »Tatsachen«, dass sie selbst Jüdin ist und dass sie eine Frau ist, werden von ihr als Teil ihrer physis begriffen. Wo Arendt auf ihr Jüdischsein als gegeben, als physei verweist und diese Tatsache mit der des Frauseins gleichsetzt, haben wir es mit einer merkwürdigen Analogie zu tun, zugleich aber auch mit einer Verständnisschwierigkeit. In Vita activa schreibt sie: »Die Art und Weise, in der Menschen Wirklichesals wirklich erfahren, verlangt, dass sie die schiere Gegebenheit der eigenen Existenz realisieren, nicht etwa weil sie sie ändern könnten, sondern um zu artikulieren und zu aktualisieren, was sie sonst nur erleiden und erdulden würden.« ( Vita activa , S.  

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