Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
ungeachtet ihres rechtlichen Status auf Angehörige sämtlicher Bevölkerungsgruppen erstreckt. Im Goldstone-Bericht (»The United Nations Fact-Finding Commission on the Gaza Conflict«) von 2009 bemerkt Goldstone denn auch selbst, dass internationales Recht und Gerechtigkeit erfordern, dass »kein Staat und keine bewaffnete Gruppe über dem Gesetz stehen darf«. Damit setzt er ein Recht, das Vorrang vor den Gesetzen und vor der Politik jedes einzelnen Staates und jeder bewaffneten Gruppe besitzt. Goldstone hat diese Position zwar jüngst in einem Gesetzeskommentar (ohne rechtliche Verbindlichkeit) widerrufen, aber seine Argumentation büßt nicht dadurch an Überzeugungskraft ein, dass er äußerem Druck nachgegeben hat.
Goldstone berief sich in seinem Bericht zwar durchweg auf völkerrechtliche Präzedenzfälle, aber es bleibt eine Spannung bestehen zwischen der Art, in der der Bericht Recht begründet, ja setzt, und den Beschränkungen, die die Präzedenzfälle vorgeben. Das entspricht meines Erachtens in bestimmter Weise der Spannung zwischen Souveränität und Kohabitation bei Arendt. Setzt das Urteilen einen souveränen Akt voraus oder ist es Resultat eines historischen Kompromisses, ein Handeln vonseiten der Pluralität? Ich denke, wir können etwas von dieser Spannung in der Rezeption und Beurteilung des Goldstone-Berichtes wiederfinden, der sowohl den Staat Israel wie die Hamas-Verwaltung in Gaza zur Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen aufforderte. Es geht an dieser Stelle des Berichts um die Frage, ob es Angriffe auf Zivilisten gab, ja ob Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht wurden. Der Staat Israel hat nicht nur die Angemessenheit und Unparteilichkeit dieses Ansatzes bestritten, sondern behauptet, Goldstone habe sich eine unberechtigte Autorität angemaßt und den Konflikt einseitig dargestellt; Israel stellte klar, dass die Abschlussempfehlungen des Berichts zur Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit als illegitim abgelehnt würden. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob hier Goldstone oder das Völkerrecht durch Goldstone spricht. Handelt es sich um eine souveräne Entscheidung Goldstones, der als Individuum eine moralische und rechtliche Autorität in Anspruch nimmt, die ihm nicht zukommt, oder ist er durch das Völkerrecht zu seinem Urteil legitimiert? (Natürlich liegt das Urteil bei einer Kommission, aber es wird in seinem Namen formuliert.) Beide Konfliktparteien bestritten die Forderung, insbesondere die Hamas, nach deren Auffassung die Zivilbevölkerung von Gaza durch den Angriff vom Dezember 2008 bis zum Januar 2009 über Gebühr betroffen war. Die palästinensischen Behörden schlossen sich dem Bericht erstaunlicherweise, aber dennoch vorhersehbar nicht an. Und die Untersuchungen, denen die Israelis zustimmten, sind ausdrücklich keine unabhängigen strafrechtlichen Untersuchungen und haben auch bislang zu keinen Verurteilungen geführt. Im Bericht von Adalah: The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel heißt es:
»Nach Angaben des israelischen Militärs gelten diese Untersuchungen jeglichem ›Fehlverhalten‹ israelischer Soldaten als Einzelpersonen, soweit sie ohne offizielle Anweisungen und Befehle gehandelt haben, und nicht der Politik und Strategie der israelischen Militäroperationen, ihrer Umsetzung, der Art der eingesetzten Waffen etc. Bislang scheinen diese Untersuchungen vor allem internationalen Druck von der israelischen Regierung nehmen, die Armee und ihre Führung von den gegen sieerhobenen Beschuldigungen entlasten sowie die Behandlung dieser Verbrechen vor internationalen Gremien verhindern zu sollen.«
Mit anderen Worten haben die aufgrund der Aufforderung Goldstones eingeleiteten Untersuchungen in Bezug auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit die Beschuldigungen effektiv entkriminalisiert. Das Risiko liegt natürlich darin, dass der Bericht lediglich als Imageproblem behandelt und durch Gegenberichte neutralisiert wird, sodass Untersuchungsergebnisse eingesetzter Tribunale ohne Rechtsfolgen bleiben und keine moralischen Ansprüche besitzen.
Nun ist Goldstone selbst Jude und Zionist. Richard Falk, ein prominenter jüdischer Politikwissenschaftler und Sondergesandter des UN-Menschenrechtsrates für die palästinensischen Autonomiegebiete, wurde zunächst in Israel inhaftiert, bevor man ihm begrenzte Bewegungsfreiheit in den besetzten Gebieten gestattete. Klingen hier nicht politische Überlegungen
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