Am Schwarzen Berg
Emil wäre vielleicht eines Tages dabei, wenn man es fände. Der Grundschüler Emil war von Weinsteigers Buch fasziniert gewesen. Stundenlang blätterte er darin herum, sah in das verschattete Gesicht der Maria, betrachtete die Zeichnungen von Gassen, Gärten und Gebäuden, allesamt in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, wo kein Stein mehr auf dem anderen lag. Wenn er mit seiner Bande in den Ruinen spielte, suchten sie unter seiner Führung oft nach einem Schatz, der in Emils Kopf immer Mörikes Schatz war und nichts mit der Gier seiner Kameraden nach Taschenmessern, Feuerzeugen und Patronenhülsen zu tun hatte. Wenn die Jungen etwas Befriedigendes unter den Trümmern hervorgekratzt hatten, endete das Spiel stets damit, daß Emil einen Zeitungsfetzen, ein aufgeweichtes Buch aus dem Schutt riß, dicht vor sein Gesicht hielt und Verse deklamierte, die seine Freunde jedesmal losgrölen ließen: »Emil, gang weiter, s’langet mit dem Zeugs!« Er aber stand da, dünnbeinig, schmutzig und verschwitzt und schrie ihnen entgegen, während kleine Gänsehautwirbel über sein Rückgrat wanderten und er selbst nicht recht wußte, ob er sich schämte oder stolz auf seinen Mut war, etwas so vollkommen Unpassendes zu tun:
»Sehet ihr am Fensterlein
Dort die rote Mütze wieder?
Nicht geheuer muß es sein,
Denn er geht schon auf und nieder.
Und auf einmal welch Gewühle
Bei der Brücke, nach dem Feld!
Horch! das Feuerglöcklein gellt:
Hinterm Berg
Hinterm Berg
Brennt es in der Mühle!«
Später schwenkte Emil auf seinem Heimweg vom Karlsgymnasium, dessen mit dem stumpfen Bleiglanz von Gorgonenaugen gefüllte Fenster ihm bis in den Schlaf hinterherglotzten, in die Heusteigstraße zum Laden des Herrn Tudium ein. Dieser handelte eigentlich mit Gemüse, bot aber auch Knöpfe feil, Gummilitze und Esslinger Garn, gewickelt auf einen vielzackigen Pappstern, oder ein paar Riegel rotzgrüne Seife, die er mit dem Messer portionierte und an die schimpfenden Frauen verkaufte, die sich vor seiner mit Kartoffelerde bestäubten Holztheke drängelten. Manchmal hatte Tudium auch eine Kiste voller Bücher, zersprengte Bürgerbibliotheken aus den Gründerzeithäusern ringsum, die wohl im Tausch für Nahrhafteres in seinen Besitz gekommen waren. Er verriet nichts. Emil und seiner Mutter wäre es nie eingefallen, ein Buch herzugeben. Sie hielten ihren verglasten Bücherschrank fest verschlossen. Es war derselbe, der jetzt, ebenso staubig wie damals, im Wohnzimmer stand. Vor Tudiums Kiste machte Emil oft Halt, faßte die goldgeprägten Bände behutsam am Rücken und wartete, ob etwas herausflatterte, das zu stehlen sich lohnte. Einmal fiel eine Postkarte vor seine Füße. Auf der Rückseite der Schwarzweißaufnahme stand: ›Bayerische Ostmark. Die Luisenburg bei Wunsiedel, größtes Felsenlabyrinth Europas.‹ Ein andermal war es ein Sträußchen getrockneten Enzians, das er mit dem Fuß in den Schmutz trat, weil es ihn ekelte, die flachgepressten, violett geäderten Blütenkelche mit den Fingern zu berühren.
Emil schwitzte jetzt stärker als vorhin beim Mähen. Der Geruch des ungelüfteten Zimmers war widerlich. Rasch ging er in die Küche und trank Wein direkt aus der Flasche. Im Garten war das Wasser im Eimer warm geworden, der Wetzstein mußte noch im Haus liegen. Unten auf der Straße rannte eine Frau in kurzen glänzenden Hosen und riesigen neonblauen Sportschuhen keuchend in Richtung Wald. Ein großer Hund folgte ihr langsam, die Nase am Boden. Emil stieg auf die Mauer und spähte zum Nachbarhaus hinüber. Der Müll war verschwunden, nur ein zerknülltes Papiertaschentuch lag noch im Gras neben dem Tonnenkasten. Emil ballte die Fäuste, er ärgerte sich über sich selbst. Wegen seiner verdammten Weinsteigerbummelei hatte er Carla verpaßt, es versäumt, sie nachbarschaftlich von der Seite anzusprechen, während sie den Besen schwang. Das Fenster von Peters altem Zimmer stand immer noch offen. Kein Wind regte sich, ein Stück Vorhang hing schlaff über das Sims. Er würde eben mähen, den ganzen Tag lang, bis sie endlich rauskam. Sicher würde sie etwas einkaufen. Peter mußte ja gefüttert werden, so wie er aussah. Mit Pfannkuchen, Milchreis und roter Grütze. Diese Gerichte kochte Carla auch heute noch, wenn ihre Enkel kamen. Peter aß dann verschämt grinsend die größte Portion. Emil hätte sich besser selbst in die Küche gestellt. Das wäre ein guter Vorwand gewesen, um drüben reinzuschneien, wie in alten Zeiten. Am Liguster
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