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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Häppchen. Er erzählte ihm von der Italienfahrt, die der Dichter 1857 in Begleitung der Geliebten, des kleinen Ferdinand und des wahlweise als Kutscher und Pferdeknecht getarnten Weinsteiger unternahm. Frau und Schwester vermuteten den Dichter am Bodensee. Ausgestattet mit einem kleinen Erbe aus der Familie des verstorbenen Bäckers bestritt Maria alle Kosten. Emil sprach von Mörikes Bezauberung durch das italienische Licht und seiner Verzückung in der Sixtinischen Kapelle, davon, wie Mörike und Maria ihre Namen und den ihres Sohnes in den weichen Gips eines Wandreliefs in der Nähe der Chorschranken eingruben, etwas unterhalb der Delphischen Sibylle, und ihre protestantischen Stirnen mit Weihwasser zeichneten. Er schilderte die beschwerliche Rückreise, »Schlammlawinen, Regengüsse, betrügerische Wirte«, auf der Mörike aber unentwegt und mühelos schrieb; in der Kutsche, auf Almwiesen, abends in der Herberge. Und er erwähnte immer wieder jenen ›Kasten‹ im Bäckerhaus, in dem Mörike seine neuen Arbeiten verschlossen hielt. Weinsteiger hatte dies mit eigenen Augen gesehen, da er sogar in der Verkleidung als Dienstmagd Ursel – Peter kicherte – mit dem Kehrwisch um den schafsgeduldig dasitzenden Dichter herumfegte. Das einzige, was Emil Peter an Originaltext zumutete, war der Schluß von Weinsteigers Aufzeichnungen: »In den frühen Morgenstunden des 25. November 1858 brach in der Backstube im Erdgeschoß ein Feuer aus. Maria war noch rechtzeitig den Flammen entkommen. Barfüßig stand sie auf der schneebedeckten Gasse. Sie führte ihren Sohn, der nur einen Packen Papiere trug, und übergab ihn einer Nachbarin. Obwohl viele Hände versuchten, sie zurückzuhalten, betrat sie erneut das Haus, dem die Flammen schon aus den geborstenen Fensterscheiben sprangen. Da sei noch was, wichtiger als ihr armes Leben.« Es ging wohl um die Kommode, in der Mörike die gesamte Produktion aus den gemeinsamen Jahren zurückgelassen hatte. Weinsteiger berichtete vom dumpfen Dröhnen des Feuers, den brüllenden Aufschlägen zusammenstürzender Balken und einem gräßlichen Schrei, bei dem die Nachbarin Ferdinand die Ohren zuhielt. Mörike, der gerade in Tübingen weilte, hatte bei seinem nächsten Besuch nur noch das schwarze Gerippe des Hauses vor Augen. Marias schauerliche Reste waren im Bäckergrab versenkt, der Sohn, der nicht seinen Namen trug, zu unbekannten Verwandten weggeführt. Von Ferdinand ebenso wie von Mörikes Arbeiten fehlte jede Spur. »Er kehrte zurück zu Margarethen als ein Schiff mit gebrochenem Mast. Aller Wille zum Leben, jede Kraft schien ihm geschwunden. Seine letzten Jahre verbrachte er in Lähmung und Trauer, gepeinigt von Gedanken an den geliebten Knaben, der nicht mehr aufzufinden war. Und mich, den ständigen Begleiter, der doch so viele Gelegenheiten gehabt hätte, die unbegreiflich hohen Werke an sich zu nehmen und ihrer Bestimmung zuzuführen, trifft die größte Schuld, da ich jenen Schatz im Bäckerhause beließ, im festen Glauben daran, er werde bald gehoben und gedruckt sein. Nur weniges habe ich notiert; wenigstens dies gebe ich, scherbengleich, aus dem Gedächtnis wieder – im Anhang dieses Buches von Seite 353 an.
    Gott sei uns allen gnädig, auch dem armen Weinsteiger. Gegeben zu Stuttgart, am Morgen des Reformationsfestes.« Ausgerechnet jener Anhang fehlte in Emils Ausgabe. Anscheinend war er herausgerissen worden. Peters Mund stand halb offen. Er fuhr mit dem Zeigefinger, der Nagel war bis aufs Fleisch abgekaut, an den welligen Rändern entlang.
    Jetzt, in der stickigen Wärme seines Wohnzimmers, fiel Emil wieder ein, daß er selbst als Junge sehr geweint hatte, als er dieses Ende zum ersten Mal las. Seine Mutter hatte ihn, den Schluchzer schüttelten bis zum Schluckauf, aus dem dunklen, eiskalten Schlafzimmer, wo der Bücherschrank stand, in die Küche vor den Kohleofen geführt. Dort hatte sie Emil auf ihren Schoß gezogen. Sie duftete nach Puder und darunter leicht und giftig nach schlechtem Schnaps, den sie getrunken hatte, um ihr Lampenfieber zu besiegen. Es war früher Abend gewesen, und sie war wahrscheinlich auf dem Weg zu einer Probe. Draußen lag die Stadt in Trümmern, es mußte Anfang der Fünfziger gewesen sein. Die Mutter hatte tröstend zu ihm gesprochen und versichert, sie glaube daran, daß Maria und Ferdinand das meiste von Mörikes Werk gerettet hätten und daß es bestimmt auf irgendeinem Stuttgarter Dachboden herumläge wie ein Schatz auf dem Meeresgrund.

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