Am Schwarzen Berg
Emil zeigte Peter, der verwundert die Augenbrauen hochzog, ein paar schiefergraue Bildtafeln: Bleistiftskizzen von Mörike, der immer nur von hinten zu sehen war, eine gebeugte Figur, der sich das Haar im Nacken kringelte. »Weinsteiger hatte viel Geld geerbt. Er war völlig unabhängig und konnte tun und lassen, was er wollte. Sein Vater besaß eine große Kammgarnspinnerei in Metzingen.« Peter las kichernd eine Liste von Mörikes Lieblingsschimpfwörtern vor. Der Frakturdruck bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, was Emil stolz machte. »Aber das alles ist nicht die Sensation.« Emil schlug erneut den Bildteil auf. »Weinsteigers größte Entdeckung war sie.« Er zeigte auf die einzige Fotografie des Bandes: eine nicht mehr ganz junge Frau, schlank und schwarzhaarig, die über ihrem Kleid eine weiße Schürze trug. Ihr Gesicht hatte einen sanften, ermatteten Ausdruck. Die großen Augen blickten schläfrig geradeaus. Ihre linke Hand ruhte auf der Schulter eines ebenfalls schwarzhaarigen Jungen von ungefähr acht Jahren. Zu ihren Füßen saß ein großer Hund. Die Gruppe stand vor einem gedrungenen Fachwerkhaus, auf dessen Tür eine große Brezel gemalt war. »Das ist Maria Merten, die Frau des Stuttgarter Bäckermeisters Leopold Merten. Ihr Haus stand ganz in der Nähe der Leonhardskirche, du kennst die Gegend als Bohnenviertel. Maria hieß vor ihrer Heirat Meyer, und jeder, der mit Mörike zu tun hat, weiß über sie Bescheid.« Emil sprach über die leidenschaftliche Liebe zwischen Maria und dem jungen Mörike, ihren ansteckenden Wahnsinn, Mörikes Weigerung, sie wiederzusehen, die Peregrina-Gedichte. Er bemerkte, wie Peter krampfhaft die Zähne zusammenbiß, ein unterdrücktes Gähnen, ein Blick nach draußen. Über die Blumenkübel seiner Mutter flatterte eine schimpfende Amsel. Emils Stimme wurde lauter: »Weil Weinsteiger Mörike auf Schritt und Tritt verfolgte, ist er einem Geheimnis auf die Spur gekommen. Mörike und Maria hatten sich nie wirklich getrennt. Sie kam in den 1830er Jahren nach Stuttgart und arbeitete zunächst als Dienstmädchen. Dann heiratete sie den braven Bäckermeister, eine späte Braut. 1845 trafen sich Mörike und Maria zufällig wieder und nahmen ihre Affäre erneut auf. Ferdinand, der Junge auf dem Foto, ist nach Weinsteigers Vermutung Mörikes Sohn, auch wenn Meister Merten ihn treusorgend und nichtsahnend als den seinen aufzog. Der gute Mann erlitt dann einen Schlaganfall und starb, er war auch nicht mehr der Jüngste. Maria führte den Laden weiter, und Mörike besuchte seine Zweitfamilie so oft wie möglich. Aber das allerwichtigste …« Emil machte eine Kunstpause, in die Peter tatsächlich hineinfragte: »Was denn noch?« »Das allerwichtigste war, daß Mörike im Bäckerhaus auch schrieb. Er lebte mit seiner Frau Margarethe und seiner Schwester Clara zusammen, später kamen noch zwei kleine Töchter hinzu. Er hatte nie Geld, und die beiden Frauen vertrugen sich nicht. Weinsteiger berichtet über »Weibergezerfe der übelsten Sorte vom Sonnenaufgang bis daß die letzte Lampe verlosch«. Bei Maria ging es wohl ruhiger zu, denn dort verfaßte Mörike während seiner Besuche eine große Anzahl von Gedichten, Erzählungen und einen Roman.«
Emil erinnerte sich jetzt, während er den Weinsteiger mit beiden Händen umklammerte und seine Zehen in den vollgekrümelten Perserteppich bohrte, an das Glück, das er damals empfunden hatte. Beim Reden hatte er Peters Gesicht betrachtet, das ihm die ganze Zeit über zugewandt geblieben war. Der Junge hatte genickt, die Augen weiteten sich, die Zungenspitze fuhr ein paar Mal über die trockenen Lippen. Er zwirbelte Haarsträhnen zusammen, die ihm in die Stirn hingen, aber er lauschte aufmerksam. Emil war in jenen zwanzig Minuten auf dem Ledersofa etwas gelungen, das er mit seinen Schülern, größtenteils älter als Peter, höchstens alle paar Jahre erleben konnte. Er setzte seine Worte vorsichtig, bemühte sich, nicht zu ausführlich über die Werke Mörikes zu dozieren und dabei in Weinsteigers altertümliches, von Begeisterungsklischees des 19. Jahrhunderts durchsetztes Deutsch zu fallen. Weinsteiger schwärmte von der »cherubimischen Herrlichkeit« der Lyrik und nannte den Roman, der Mörikes einzige Italienreise zum Thema hatte, »ein Werk, in dessen Schatten selbst Goethen als ein braver, aber geistloser Bub beschämt stehen bleiben müsse«. Für Peter portionierte Emil die Geschichte von Mörike und Maria in mundgerechte
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