Am Schwarzen Berg
von »deiner treuen Freundin Maria Merten, geborene Meyer«.
Lautenschlager, ein einbeiniger Hypertoniker von unglaublicher Grobheit, residierte in einem ehemaligen Milchladen in der Falbenhennenstraße. Häufig hing ein handgeschriebenes Schild im Fenster: ›Bin in Bälde zurück‹. Lautenschlager führte hauptsächlich Heimatkundliches und Militaria. Peter haßte ihn mit dem sicheren Instinkt des zukünftigen Wehrdienstverweigerers. Der Alte zeigte Emil einmal eine vollständige Serie der »Blutregen«-Hefte von Kurt Murtius und Hermann Waldkemper, jener berühmten Comicreihe für Flakhelfer, die im Herbst 1944 vom Propagandaministerium herausgegeben worden war. Waldkempers scharflinige Schwarzweißzeichnungen und Murtius’ Dialoge waren von solcher Brutalität, daß Emil einen plötzlichen Hungeranfall vortäuschte und Peter nach Butterbrezeln hinausschickte. Lautenschlager handelte auch mit Stahlstichen, Ansichten der Stadt vor der Zerstörung. Hier hatte ausgerechnet Peter – der Stolz, der Aufschrei, trotz aller eingebläuten Diskretion! – nach langer Wühlerei eine Ansicht der Leonhardskirche gefunden, in deren Schatten sich die Bäckerei Merten duckte. Man konnte sogar den großen Garten hinter dem Haus erkennen und darin die Geißblattlaube, in der Mörike Weinsteiger zufolge an warmen Tagen gerne gesessen hatte.
Zischka schließlich, mit Vornamen hieß er Joseph, das blitzte dann doch noch durch Emils Hirn, war der einzige wirkliche Antiquar in diesem Kleeblatt. Ein langer, magerer Mensch, der aus dem böhmischen Dux stammte und an der Prager Universität über die Buchmalerwerkstatt des Diebold Lauber promoviert hatte. Sein Laden lag schräg gegenüber dem Fangelsbachfriedhof. Mustergültige Ordnung herrschte in den zwei winzigen Räumen. Die Kunden wurden auf blaugestreifte Biedermeierstühle plaziert und mußten weiße Handschuhe überstreifen, bevor sie unter den Augen des Meisters die Mappen mit den losen Blättern durchsehen durften. Vor dem dünnhaarigen, bleichen Zischka mit dem vorspringenden Adamsapfel war Emil am meisten auf der Hut gewesen. Er ließ sich Postkarten und Stadtansichten zeigen, auch Privatbriefe aus der fraglichen Zeit, fand aber nie etwas. Bei ihm kaufte er lediglich einen Bildband der Sixtina, 1942 in Wien erschienen. Schwarz und hoffnungslos glotzen die Verdammten aus den alten Reproduktionen. Emil hoffte, hier eine Spur von Mörikes Wandkritzelei zu entdecken. Bei seinen eigenen Besuchen in Rom, er war schon als Student vier Mal dort gewesen, hatte er keine Spur davon entdecken können. Emil hatte Peter eingeschärft, den Händlern niemals zu verraten, wonach sie eigentlich suchten. Er traute keinem von ihnen über den Weg, nicht einmal der harmlosen Frau Schatz. Peter begeisterte sich überraschend lange für ihre Mission. Häufig klopfte er selbst bei Emil an und fragte, ob sie nicht mal wieder »losziehen« sollten. Beim Nachmittagskaffee berichtete Carla stolz von einem Mörike-Referat, das mit der Bestnote belohnt worden war, eine Seltenheit bei Peter, der nicht nur in den naturwissenschaftlichen Fächern große Schwierigkeiten hatte. Emil wußte nicht, ob Peter seinen Eltern erzählte, wohin sie fuhren und wonach sie suchten. Er hörte noch seinen aufgeregten Ruf in der geöffneten Tür: »Der Emil muß in die Stadt, ich fahr schnell mit!« Hajo stand in Hemdsärmeln am Fenster und sah ihnen nach, das Gesicht nackt ohne Brille, in den Händen ein zusammengeknülltes Geschirrtuch. Peter glitt auf den Beifahrersitz. »Papa wollte was kochen, Kartoffelsalat, den macht er ja immer, aber ich hatte keine Lust. Nachher klingelt eh das Telefon, und er muß wieder weg.«
Den ganzen restlichen Sommer waren sie Nachmittage lang durch die aufgeheizten Straßen getrödelt. Auf dem Weg durch das verlotterte Lehenviertel zeigte Emil Peter das Haus seiner Kindheit. Milde lächelten die sandsteinernen Schafsköpfe von den breit ausladenen Loggien des prächtigen Bürgerhauses herunter. Über dem Eingang reichte ein Paar sich die Hände. ›Grüß Gott‹ stand unter den beiden, in ausgewaschenen Buchstaben, die einmal vergoldet gewesen waren. Die unzerstörten Bilderbuchfassaden der Gründerzeithäuser, voll von Engeln, Nixen, Königen, waren rußgeschwärzt und unbeachtet. Hinter verschmierten Fenstern hingen Batikvorhänge, standen Korbflaschen mit Kerzen darin. Aus den Eingängen roch es nach Müll und Kellermuff. Auf einer Mauer war mit groben weißen Pinselstrichen ein
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