Am Schwarzen Berg
Emil. Trotzdem schaute er nicht immer genervt, wenn dieser durch die Terrassentür trat. »Peterle«, das blieb erlaubt, »was treibst du?« Im Zimmer war es stickig. Ausgesperrte Lichtstrahlen warfen durch die Rolladenritzen ein Muster auf den Teppich. Der Geruch von Kurzgebratenem hing in der Luft. Emil hörte die Titelmelodie: »… I’m the unknown stuntman that made Redford such a star.« Colt, Howie und die weißblonde Jody jagten auf Motorrädern eine kalifornische Küstenstraße entlang, helmlos, frei, das Haar der Frau wie ein leuchtendes Tuch. Emil blieb vor Peter stehen. »Ich wollte dir etwas zeigen. Eine ziemlich abenteuerliche Geschichte, für die wir auch noch einmal in die Stadt fahren müßten, wenn du Zeit und Lust hast.« Peter schaltete den Fernseher aus, als Emil sich neben ihm niederließ. Er gab ihm das dunkelrote Buch.
Es war die Mörike-Biografie von Carl Fridolin Weinsteiger, im Sommer 1899, lange nach dem Tod des Dichters, in verschwindend geringer Auflage in Stuttgart erschienen. Über den abgeschabten Purpur des Einbandes krochen Blätterranken. Grünspan lag in sanfter, giftig glänzender Tönung auf den goldenen Ornamenten und Titelbuchstaben: Mörikes geheimes Leben. Peters Gesichtsausdruck war gleichgültig. »Mörike, das ist doch unser Straßenpate. Am schwarzen Berg, da steht der Riese. Und der Feuerreiter. Mußten wir in der fünften auswendig lernen. Das Hutzelmännle hast du mir vorgelesen. Seppe und der Krakenfischzahn. War okay.« Emil nickte und sah zu, wie Peter das weiche Leder streichelte, die erste Seite aufschlug und das Porträt des Verfassers betrachtete: »Im Alter von 25 Jahren nach der Zeichnung eines unbekannten Freundes.« Ein stattlicher Bubenkopf mit runden Wangen und viel dunklem Haar, das seitlich aus der Stirn gebürstet war. Herausfordernde, fast arrogant blickende Augen, eine Knubbelnase über vollen, verächtlichen Lippen. Das Kinn war gespalten wie ein verwachsener Apfel. Weinsteiger sah aus wie einer, der schon viele Frauen flachgelegt hatte und gerne darüber redete. Die offensichtliche Selbstgewißheit, mit der er die Arme über der Samtweste kreuzte, schien auch Peter zu beeindrucken. Doch nicht lange, da hob er den Blick. Seine Augen irrten zurück zu der erloschenen Mattscheibe. Er kratzte sich, und Emil begann hastig zu sprechen: »Carl Fridolin Weinsteiger war Anfang Zwanzig, als er anfing, an diesem Buch zu arbeiten. Im Vorwort nennt er sich einen Verehrer Mörikes. Aber eigentlich war er das, was man heute einen Fan nennt, ein glühender, bedingungsloser Fan.« Peter nickte zweimal. »Weinsteiger folgte Mörike jahrelang, und zwar ohne dessen Wissen. Er zog ja sehr oft um, und Weinsteiger begleitete ihn von Stadt zu Stadt. Unermüdlich wechselte er die Wohnung, um seinem Idol nahe zu sein, gab sich aber nie zu erkennen. Wenn er sich, meist nebenan oder schräg gegenüber, eingemietet hatte, lag er den ganzen Tag lang auf der Lauer und notierte alles, was er vom Leben des Dichters mitbekam. Um seinem Dauernachbarn und dessen Familie nicht aufzufallen, verkleidete er sich ständig.« Peter lachte: »So ein Spinner!« »Weinsteiger war von Mörike besessen. Für das Verkleiden muß er enorm talentiert gewesen sein. Er benutzte Masken, falsche Bärte, künstliche Falten, die er mit Gummiarabicum aufklebte. Er ließ sich Haarfärbemittel aus London und Paris kommen, besaß zahllose Perücken und einen ganzen Schrank voll Männer- und Frauenkleidung für die unterschiedlichsten Anlässe. Er beschreibt das alles in seinem Vorwort ›Zu meiner Methode‹. Polizei und Agenten des Kaiserreichs haben Weinsteigers Verkleidungstricks später für ihre Zwecke benutzt, weil sie so raffiniert waren.«
Peter hatte sich im Schneidersitz zwischen Carlas hellen Cordkissen niedergelassen. Emil sah die abgeschabte Bläue seiner Jeansknie, die nackten, braunen Füße. Er wußte noch, wie er damals dachte: Jetzt hab ich dich. In dieser Haltung hatte Peter ihm jahrelang zugehört, wenn er ihm die Klassiker seiner eigenen Jugend vorlas: Rulaman, Die Höhlenkinder, Lederstrumpf. Er sprach weiter, erzählte, wie Weinsteiger Mägde, Kutscher und Köchinnen bestach, um an zerknüllte Zettel aus Mörikes Papierkorb, Briefentwürfe, selbst an Haare aus seinem Kamm oder ein Paar löchrige Socken zu kommen. Mit fliegenden Fingern durchblätterte Emil das Buch. Hitze strömte von der Terrasse in den abgedunkelten Raum. Die Sohlen brannten, wenn man über die Steinplatten lief.
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