Am Seidenen Faden
kennenlernen? Hast du nicht endlich genug davon, dich von egoistischen Männern mißbrauchen zu lassen? Wen willst du eigentlich bestrafen?
»Hey, was ist denn hier los?« klang es irgendwo hinter uns verschlafen. Als ich mich umdrehte, sah ich Sara mit bloßen Füßen in die Küche trotten. Ihr Amazonenkörper steckte in einem blauseidenen Hemdchen und Boxershorts. In meinem Hemdchen und meinen Boxershorts, erkannte ich und begriff, warum ich die Sachen seit Wochen vergeblich suchte. Die Augen unter ihrem langen wirren Haar kaum geöffnet, tastete sie sich wie eine
Blinde mit ausgestreckten Armen zum Kühlschrank vor, öffnete die Tür. Sie nahm den Karton mit dem frischgepreßten Orangensaft heraus und hob ihn an die Lippen.
»Bitte, laß das«, sagte ich so ruhig wie möglich.
»Mach keinen Streß«, entgegnete sie, einen dieser wunderbaren Teenagerausdrücke benutzend, die ich hasse wie die Pest.
»Im Schrank stehen Gläser«, sagte ich.
Sara stellte den Saft ab, und machte den Schrank auf, nicht ohne dabei demonstrativ die Augen zu verdrehen. »Also, was war das hier vorhin für ein Krach? Ihr habt so laut gelacht, daß ich davon aufgewacht bin.«
Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach. Es schien so lange her zu sein.
»Deine Mutter hat tatsächlich mal was Komisches gesagt«, erklärte Jo Lynn, als wäre ich normalerweise ein Ausbund an Humorlosigkeit. »Es war was über PMS. Wie war es gleich wieder?«
»Na ja, das ist nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen«, schränkte ich ein. »Ich hab’s mal in einer Comedy-Sendung gehört.«
»Und was war es?« Sara füllte das hohe Glas mit Orangensaft, spülte ihn geräuschvoll in einem Zug hinunter und stellte dann Karton und leeres Glas auf die Anrichte.
»Moment mal!« protestierte ich. »Den Karton in den Kühlschrank, das Glas in die Spülmaschine.«
Erneutes Augenrollen, die Türen von Kühlschrank und Geschirrspüler klappten. »Laß nur, interessiert mich nicht mehr«, sagte sie, kam zum Tisch und warf einen Blick auf die Zeitung. Der Präsident, der Priester und Colin Friendly blickten sie an. »Der ist ja süß«, bemerkte sie kurz und machte sich auf den Rückweg in ihr Zimmer.
»Den heirate ich«, rief Jo Lynn ihr nach.
»Cool«, sagte Sara, ohne stehenzubleiben.
3
Der Montag kam. Ich hatte Klienten von morgens um acht bis abends um sechs, mit einer Dreiviertelstunde Mittagspause.
Meine Praxis liegt mitten in Palm Beach, nur ein paar Straßen vom Meer entfernt. Sie besteht aus zwei kleinen Zimmern und einem noch kleineren Warteraum. Die Zimmerwände sind zartrosa, die Möbel überwiegend grau. Stapel aktueller Zeitschriften füllen mehrere große Körbe zu beiden Seiten zweier gepolsterter Bänke im Wartezimmer. Ich achte darauf, stets die neuesten Ausgaben zu haben, seit einmal eine meiner Klientinnen mit Tränen in den Augen und einer Newsweek in den Händen in mein Zimmer kam und fragte, ob ich wüßte, daß Steve McQueen Krebs habe. Steve McQueen war zu diesem Zeitpunkt bereits viele Jahre tot.
Die Wände schmückt ein kunterbuntes Sortiment von Bildern: eine Schwarzweiß-Fotografie von einem Eisbären, der mit seinem Jungen spielt; ein Aquarell von einer Frau, die im Schatten eines riesigen Banyanbaums sitzt und liest; eine Reproduktion von einem weltberühmten Toulouse-Lautrec-Plakat – Jane Avril, das Bein zum Tanz erhoben. Im Hintergrund plätschert klassische Musik, nicht zu laut, aber hoffentlich laut genug, um die manchmal erhobenen Stimmen hinter den geschlossenen Türen meines Zimmers zu übertönen.
Drinnen sind drei grauweiße Polstersessel um einen rechteckigen niedrigen Glastisch gruppiert. Weitere Stühle können, wenn nötig, hereingeholt werden. Ein paar Grünpflanzen sind da, die echt aussehen, aber aus Plastik sind, da ich mit Pflanzen keine gute Hand habe und es eines Tages leid war, immer wieder zusehen zu müssen, wie die echten welkten und starben. Außerdem schienen mir die welken Pflanzen symbolisch gesehen ein schlechtes Licht auf meine therapeutischen Fähigkeiten zu werfen.
Auf dem Couchtisch habe ich immer eine kleine Schale Kekse,
einen großen Schreibblock und eine noch größere Schachtel Papiertücher. In einer Ecke ist eine Videokamera, mit der ich manchmal Sitzungen aufzeichne – natürlich nur mit Erlaubnis der Klienten. An der Wand hinter meinem Kopf hängen eine Uhr und mehrere Drucke berühmter Impressionisten: Monets Seerosen; ein friedliches Pissarro-Dorf; ein
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