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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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die Termine haben wollten; eine vom Studienberater an Saras Schule mit Bitte um Rückruf; zwei von meiner Mutter mit der Bitte, mich so bald wie möglich zu melden; und einer von Jo Lynn, die mir mitteilte, daß sie den ganzen Morgen beim Prozeß gewesen sei, daß Colin Friendly in natura noch besser aussehe als auf den Fotos, daß sie mehr denn je von seiner Unschuld überzeugt sei und daß ich am Mittwoch, meinem freien Tag, unbedingt mitkommen müsse, um mich mit eigenen Augen zu überzeugen. Ich schloß einen Moment die Augen, holte tief Luft und rief dann meine Mutter an.
    In ihrer Stimme schwang ein Unterton der Verzweiflung, den ich an ihr nicht kannte. »Wo bist du nur gewesen?« fragte sie. »Ich habe den ganzen Morgen angerufen. Immer hat sich nur dieser blöde Anrufbeantworter gemeldet.«
    »Was ist denn los, Mama? Ist was passiert?«
    »Ach, es ist dieser verdammte Mr. Emerson.«
    »Was ist denn mit Mr. Emerson?«
    »Er behauptet, ich hätte ihn mit dem Pfirsichkuchen, den ich ihm gebacken habe, vergiften wollen. Er sagt, er sei die ganze Nacht aufgewesen und habe sich übergeben. Ich bin außer mir, wirklich. Allen im Haus erzählt er, ich hätte ihn vergiften wollen.«

    »Ach, Mama, das tut mir aber leid. Ich kann mir vorstellen, wie enttäuscht du bist. Da hast du dir extra solche Mühe gemacht.« Ich stellte sie mir vor, wie sie, über die Arbeitsplatte in ihrer kleinen Küche gebeugt, die Pfirsichscheiben in ordentlichen Reihen auf dem Teig anordnete. »Denk einfach nicht daran. Es nimmt ihn bestimmt keiner ernst.«
    »Könntest du nicht mal mit Mrs. Winchell sprechen?« fragte sie. »Ich bin zu erregt dazu, und ich weiß, wenn du sie anrufen und ihr alles erklären würdest …«
    »Ach, ich glaube nicht, daß das nötig ist, Mama.« Mrs. Winchell war die Leiterin des Altenheims, und ich hielt es für überflüssig, sie da hineinzuziehen.
    »Bitte!« Wieder dieser mir so fremde, verzweifelt drängende Ton.
    »Na schön. Hast du die Nummer da?«
    »Die Nummer?«
    »Schon gut.« Meine Mutter war offensichtlich nicht in der Verfassung, an solche Details zu denken. »Ich suche sie mir selbst raus.«
    »Und du rufst gleich an?«
    »Sobald ich kann.«
    »Tausend Dank, Kind. Sei mir nicht böse, daß ich dir so zur Last falle.«
    »Du fällst mir nie zur Last. Ich melde mich später.« Ich legte auf, biß ein paar mal in mein Brot und blätterte in meinem Adreßbuch nach Mrs. Winchells Telefonnummer. Aber vorher wollte ich noch in Saras Schule anrufen. Der Studienberater meldete sich genau in dem Moment, als mir ein Riesenstück Thunfisch am Gaumen kleben blieb.
    »Sara versäumt in letzter Zeit häufig den Unterricht«, erklärte er mir ohne Umschweife. »In den vergangenen zwei Wochen hat sie viermal in Mathematik gefehlt und zweimal in Spanisch.«
    Du lieber Gott, dachte ich. Geht das schon wieder los. Hatten wir das nicht erst letztes Jahr?
    »Ich werde mit ihr reden«, sagte ich und kam mir vor wie eine
komplette Versagerin, obwohl ich wußte, daß dies natürlich Saras Problem war und nicht meines. Eine tolle Familientherapeutin, dachte ich, während ich die letzten Bissen meines Brots verschlang, die wie schwere Klumpen in meinen Magen fielen.
    Dann rief ich Mrs. Winchell an, erklärte ihr rasch mein Anliegen und fragte, ob sie nicht einmal mit Mr. Emerson sprechen könne. Vielleicht, meinte ich vorsichtig, habe er ein Alter erreicht, wo er ein Heim brauche, das mehr Betreuung bot. Erst einmal blieb es einen Moment still. Ich ertappte mich dabei, daß ich den Atem anhielt, obwohl ich selbst nicht wußte, warum ich das tat.
    »Ganz so einfach ist das nicht«, begann Mrs. Winchell und brach ab. Ich versuchte, sie mir am anderen Ende der Leitung vorzustellen, aber ihr Schweigen war verwirrend. Ich brauchte mehrere Sekunden, um ihr Bild heraufzubeschwören, das einer Frau, die etwa zehn Jahre älter war als ich, mit ebenholzschwarzer Haut, gutaussehend trotz des leicht fliehenden Kinns, mit kurzem schwarzem Haar und einem sympathischen Lächeln. »Ich hatte sowieso vor, Sie anzurufen.«
    »Gibt es ein Problem?« fragte ich widerstrebend.
    »Wir hatten Klagen von einigen anderen Bewohnern«, begann sie.
    »Klagen? Über Mr. Emerson?«
    »Über Ihre Mutter«, entgegnete sie.
    »Über meine Mutter?«
    Eine lange Pause folgte. Dann: »Es hat in den letzten zwei Monaten einige Schwierigkeiten gegeben.«
    »Was für Schwierigkeiten?«
    Wieder Schweigen. Mrs. Winchell war offensichtlich eine Frau, die sich

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