Am Seidenen Faden
apfelwangiges Renoir-Mädchen auf einer Schaukel.
Im hinteren Zimmer sind mein Schreibtisch, das Telefon, die Akten, ein kleiner Kühlschrank, mehrere Extrastühle und eine Tretmühle, für mich ein perfektes Symbol unserer Zeit: Die Leute rennen sich die Lunge aus dem Leib und kommen doch nirgends hin. Dennoch versuche ich, mindestens zwanzig Minuten jeden Tag auf diesem gräßlichen Gerät zu verbringen. Es soll meinen Geist entspannen und gleichzeitig meine Muskeln stählen. Tatsächlich geht es mir nur auf die Nerven. Aber dieser Tage geht mir so ziemlich alles auf die Nerven. Ich schreibe es meinen Hormonen zu, die sich, wie alle Zeitschriften mir erklären, in einer ständigen Bewegung befinden. Diese Artikel gehen mir genauso auf die Nerven. Und es ist kein Trost, daß »Frauen in einem gewissen Alter«, wie die Franzosen das angeblich nennen, in den begleitenden Illustrationen stets als vertrocknete kahle Äste eines einst blühenden Baums dargestellt werden.
Wie dem auch sei, es war Montag, ich hatte den ganzen Morgen Klienten gesehen, und mein Magen sehnte knurrend das Ende der letzten Sitzung vor der Mittagspause herbei. Das Paar, das mir gegenübersaß, war hilfesuchend zu mir gekommen, weil es mit seinem vierzehnjährigen Sohn, der so trotzig und schwierig war, wie man sich das bei einem Teenager nur vorstellen kann, nicht mehr fertig wurde. Nach zwei Sitzungen hatte er sich geweigert wiederzukommen, seine Eltern jedoch blieben bei der Stange und bemühten sich tapfer um einen Kompromiß, mit dem alle leben konnten. So ein Kompromiß hat natürlich nur Erfolg, wenn alle Beteiligten sich an ihn halten, und daran dachte der Sohn der beiden überhaupt nicht.
»Er hat sich wieder heimlich rausgeschlichen, nachdem wir zu
Bett gegangen waren«, berichtete Mrs. Mallory gerade, während ihr Mann steif und schweigend an ihrer Seite saß. »Wir hätten nicht einmal gemerkt, daß er weg war, wenn ich nicht aufgewacht wäre, weil ich zur Toilette mußte. Da habe ich in seinem Zimmer Licht gesehen und bin rübergegangen, um nach ihm zu sehen. Sie werden es nicht glauben, er hatte sein Bett mit Kissen ausgestopft, um den Anschein zu erwecken, er läge drin und schliefe, genauso wie in diesen Gefängnisfilmen, die man im Fernsehen sieht. Er ist morgens um drei nach Hause gekommen.«
»Wo war er?« fragte ich.
»Das hat er uns nicht gesagt.«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Wir haben ihm gesagt, was für Sorgen wir uns gemacht haben …«
» Du hast dir Sorgen gemacht«, korrigierte ihr Mann kurz.
»Sie nicht?« fragte ich ihn.
Jerry Mallory schüttelte den Kopf. Er war ein gepflegter Mann, fast immer im dunkelblauen Anzug mit konservativ gestreifter Krawatte, während seine Frau meistens aussah, als hätte sie sich das nächstbeste Kleidungsstück übergeworfen, das gerade aus dem Wäschetrockner gefallen war. »Das einzige, was mir Sorgen macht, ist, daß eines Tages die Polizei bei uns vor der Tür stehen wird.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Jill Mallory blickte von mir zu ihrem Mann, der stur geradeaus starrte. »Ich bin nur noch ein Nervenbündel. Ich kann nicht schlafen; ich schreie jeden an. Jenny hab ich heute morgen auch wieder angeschrien. Ich habe ihr dann zu erklären versucht, daß es nichts zu bedeuten hat; daß ich sie liebhabe, auch wenn ich zur Zeit dauernd herumbrülle.«
»Sie haben sich also selbst die Erlaubnis gegeben, sie weiterhin anzuschreien«, sagte ich so behutsam wie möglich. Sie sah mich an, als hätte ein Pfeil ihr Herz durchbohrt.
Jill, Jerry, Jenny, Jason, leierte ich im stillen herunter und fragte mich, ob diese Folge von Js bewußt gewählt war. Jo Lynn, fügte ich unwillkürlich hinzu. Sofort sah ich sie in einem vollen Gerichtssaal
in West Palm Beach sitzen und hoffte doch gleichzeitig, sie sei so vernünftig gewesen, zu Hause zu bleiben.
»Gibt es nicht ein Mittel, Jason zur Therapie zu zwingen?« fragte die Mutter. »Vielleicht wenn wir einen Psychiater …«
Ich erklärte ihr, daß ich das für zwecklos hielt. Jugendliche sind vor allem aus zwei Gründen schlechte Therapiekandidaten: Erstens haben sie keine Einsicht in die Ursachen ihres Handelns, und zweitens interessieren sie die Ursachen ihres Handelns gar nicht.
Als die Stunde um war und die Mallorys sich verabschiedet hatten, ging ich ins andere Zimmer, nahm mir ein Thunfischsandwich aus dem Kühlschrank und hörte meinen Anrufbeantworter ab. Sieben Nachrichten warteten auf mich: drei von Leuten,
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