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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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schüttelte den Kopf.
    »Das kann nicht dein Ernst sein. Er sieht aus wie Brad Pitt, nur daß sein Haar dunkler und seine Nase länger und schmäler ist.«
    Ich starrte die siebenunddreißigjährige Frau an, die mir gegenüber saß. Erst hatte sie sich angehört wie eine aggressive Zehnjährige, jetzt redete sie wie ein verknallter Teenager. Würde sie jemals erwachsen werden? Werden wir überhaupt je erwachsen? Oder werden wir nur alt?
    »Okay, vielleicht sieht er Brad Pitt ja auch gar nicht so ähnlich, aber du mußt zugeben, daß er gut aussieht. Charismatisch. Ja, genau – charismatisch. Das mußt du wenigstens zugeben.«
    »Tut mir leid, aber ich kann jemanden, der dreizehn Frauen und Mädchen gequält und ermordet hat, nicht toll oder charismatisch finden. Das schaff ich nicht.« Ich dachte an Donna Lokash, eine meiner Klientinnen, deren Tochter Amy vor fast einem Jahr verschwunden war; sie war ein mögliches Opfer Colin Friendlys, obwohl man bisher keine Leiche gefunden hatte.
    »Du mußt die beiden Dinge auseinanderhalten«, sagte Jo Lynn, und ich hätte beinahe gelacht. Ich war diejenige, die immer predigte, man müsse Birnen und Äpfel auseinanderhalten. »Die
Tatsache, daß er gut aussieht, hat nichts damit zu tun, ob er jemanden umgebracht hat oder nicht.«
    »Ach nein?«
    »Nein. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«
    Ich zuckte die Achseln. »Was siehst du, wenn du ihn anschaust?« fragte ich. »Abgesehen von Brad Pitt.«
    »Ich sehe einen kleinen Jungen, der verletzt worden ist.« Jo Lynns Stimme war ernst und aufrichtig.
    »Du siehst einen Jungen, der verletzt worden ist«, wiederholte ich und sah Jo Lynn als kleines Mädchen vor mir, wie sie ein streunendes Kätzchen, das sie irgendwo aufgelesen hatte, zärtlich auf ihrem nackten Bauch wiegte. Sie hatte sich eine Scherpilzflechte von ihm geholt. »Wo? Wo siehst du das?«
    Der knallige orangerote Fingernagel zog einen kleinen Kreis um Colin Friendlys Mund. »Er hat so ein trauriges Lächeln.«
    Ich sah mir das Foto genauer an und stellte überrascht fest, daß sie recht hatte. »Findest du es nicht merkwürdig«, fragte ich, »daß er unter den gegebenen Umständen überhaupt lächelt?«
    »Das ist doch nur jungenhafte Verlegenheit«, erklärte sie, als hätte sie Colin Friendly ihr Leben lang gekannt. »Ich finde es liebenswert.«
    Ich stand auf, ging zur Anrichte hinüber und schenkte mir noch eine Tasse ein. Ich brauchte sie jetzt. »Können wir uns vielleicht über was andres unterhalten?«
    Jo Lynn drehte sich auf ihrem Stuhl herum und hielt mir ihre Tasse hin. Sie streckte ihre langen sonnengebräunten Beine aus. »Du nimmst mich einfach nicht ernst.«
    »Jo Lynn, laß uns doch jetzt nicht …«
    »Laß uns nicht was? Über was reden, was mir wichtig ist?«
    Ich starrte in meinen Kaffee und wünschte mich zurück ins Bett. »Das ist dir wichtig?« fragte ich.
    Jo Lynn setzte sich gerade und zog ihre Beine zurück. Sie verzog ihre Lippen zu einer Bardot-Schnute, die die meisten Männer anziehend finden, die mich aber immer schon bis zur Weißglut gereizt hatte. »Ja, es ist mir wichtig.«

    »Na schön, wohin soll ich das Hochzeitsgeschenk schicken?« fragte ich, bemüht, die Sache mit Humor zu nehmen.
    Das kam bei Jo Lynn nicht an. »Natürlich, mach dich nur über mich lustig. Für dich bin ich ja immer nur ein Witz!«
    Ich trank einen Schluck Kaffee. Es war das einzige, was mir einfiel, um zu verhindern, daß ich gleich ins nächste Fettnäpfchen trat. »Jo Lynn, was soll ich denn sagen? Was möchtest du denn?«
    »Ich möchte, daß du aufhörst, so verdammt abschätzig daherzureden.«
    »Entschuldige, ich war mir nicht bewußt, daß ich abschätzig bin.«
    »Eben! Das ist ja das Problem. Du merkst es nie.«
    Meine Fehler waren nicht gerade das Thema, das ich an diesem Morgen behandeln wollte. »Hör mal, können wir uns nicht einfach darauf einigen, daß wir unterschiedlicher Meinung sind? Es ist ein herrlicher Tag. Ich möchte ihn wirklich nicht mit einem Streit über einen Mann verschwenden, dem du nie begegnet bist.«
    »Das wird sich ändern.«
    »Was?«
    »Ich werde ihn kennenlernen.«
    »Was?«
    »Ich werde ihn kennenlernen«, wiederholte sie eigensinnig. »Ich setze mich nächste Woche in diesen Gerichtssaal und werde ihn kennenlernen.«
    Meine Geduld war fast erschöpft. Das war ja schlimmer als eine Auseinandersetzung mit Sara. »Du willst in den Gerichtssaal …«
    »Richtig. Ich setze mich in den Gerichtssaal. Gleich am

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