Am Seidenen Faden
Montag.«
»Und was glaubst du, daß du damit erreichst?« fragte ich, ohne auf die leise Therapeutenstimme im Hintergrund zu hören, die mir riet, den Mund zu halten und Jo Lynn quasseln zu lassen, bis ihr einfach der Dampf ausging. »Die lassen dich doch nicht mit ihm reden.«
»Vielleicht doch.«
»Bestimmt nicht.«
»Dann setze ich mich eben einfach in den Saal und hör mir alles an. Nur um für ihn dazusein.«
»Um für ihn dazusein«, wiederholte ich fassungslos.
»Zu seiner Unterstützung, ja. Und wiederhol nicht dauernd alles, was ich sage. Das geht mir unheimlich auf den Keks.«
Ich versuchte es mit einer anderen Taktik. »Ich dachte, am Montag wolltest du auf Arbeitsuche gehen.«
»Ich bin seit zwei Wochen Tag für Tag auf Arbeitsuche. Ich habe meine Bewerbungen in der ganzen Stadt verteilt.«
»Hast du mal irgendwo mit einem Anruf nachgehakt? Du weißt, man muß hartnäckig sein.« Der Klang meiner Stimme widerte mich genauso an wie Jo Lynn, deren Gesicht Bände sprach. »Und du kannst ja weiß Gott hartnäckig sein, wenn du willst.«
»Vielleicht will ich aber nicht«, gab sie schnippisch zurück. »Vielleicht hab ich’s satt, für einen Hungerlohn für einen Haufen minderbemittelter Idioten zu arbeiten. Vielleicht mach ich mich selbständig.«
»Als was denn?«
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht mach ich ein Fitneßstudio auf oder eine Hundepension, irgend so was.«
Ich gab mir die größte Mühe, keine Miene zu verziehen, während ich diese Neuigkeiten zu verarbeiten suchte. Jo Lynn hatte nie in ihrem Leben einen Fitneßklub aufgesucht; sie wohnte in einem Mietshaus, in dem Haustiere nicht erlaubt waren.
»Du glaubst natürlich, ich schaff das nicht.«
»Ich bin überzeugt, du schaffst alles, was du dir vornimmst«, antwortete ich aufrichtig. Im Moment war es gerade das, was mir die größten Sorgen machte.
»Aber du findest die Idee blöd.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Brauchst du auch gar nicht. Ich seh’s dir an.«
Ich wandte mich ab und sah mein Gesicht im dunklen Glas des Backrohrs. Sie hatte recht. Selbst in dem getönten Glas konnte ich erkennen, daß mein Gesicht blaß geworden war, daß meine
Mundwinkel herabhingen. Es war natürlich nicht gerade von Vorteil, daß mir das Haar wie ein nasser Mop um den Kopf hing und die Tränensäcke unter meinen Augen im hellen Morgenlicht besonders gut zur Geltung kamen. »Um sich selbständig zu machen, braucht man Geld«, begann ich, wiederum die kleine Therapeutin ignorierend, die mir mit Fäusten aufs Gehirn trommelte.
»Das Geld krieg ich schon.«
»Ach ja? Woher denn? Wann?«
»Wenn Mama stirbt«, antwortete sie und lächelte so traurig wie der Killer in der Morgenzeitung.
Einen Moment war ich wie vom Donner gerührt. Hastig stellte ich meine Kaffeetasse auf die Anrichte und krampfte eine zitternde Hand in die andere. »Wie kannst du so was sagen!«
Sie begann plötzlich zu lachen. Ihr Gelächter schoß in lauten Juchzern in die Luft, die wie riesige Lassos meinen Kopf umkreisten und herabzufallen, meine Kehle zu umschlingen drohten, um mich erbarmungslos zur Decke emporzureißen, bis ich nur noch hilflos mit den Beinen strampeln konnte. »Nimm doch nicht alles gleich so ernst. Merkst du nicht, wenn jemand einen Scherz macht?«
»Einen Scherz mit der Wahrheit«, entgegnete ich und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Unsere Mutter sagte das immer.
»Ich hab nie verstanden, was das heißen soll«, sagte Jo Lynn gereizt.
»Es heißt, daß man scherzt, aber in Wirklichkeit doch nicht scherzt. Sondern es ernst meint.«
»Ich weiß, was es heißt«, sagte sie.
»Ist ja auch egal«, versetzte ich. »Mama ist erst fünfundsiebzig, und es geht ihr bestens. Ich würde mich an deiner Stelle nicht darauf verlassen, daß sie so bald das Zeitliche segnet.«
»Bei ihr konnte ich mich noch nie auf was verlassen«, sagte Jo Lynn.
»Wo kommt denn das plötzlich alles her?« fragte ich.
Jetzt war es Jo Lynn, die mich ungläubig anstarrte. »So war es immer. Wo bist du eigentlich die ganze Zeit gewesen?«
»Und wie lang soll das so weitergehen? Du bist erwachsen. Wie lange willst du ihr noch Vorwürfe machen für Dinge, die sie vor zwanzig Jahren vielleicht getan oder nicht getan hat?«
»Du brauchst es gar nicht so herunterzuspielen!«
»Ja, was zum Donnerwetter hat sie dir denn angetan?«
Jo Lynn schüttelte den Kopf, schob das blonde Haar zurück und zupfte an dem goldenen Ring, der in ihrem rechten Ohr hing.
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