Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
»Nichts. Sie hat alles richtig gemacht. Sie war die perfekte Mutter. Vergiß es einfach.« Wieder schüttelte sie den Kopf. Das blonde Haar fiel ihr wieder ins erhitzte Gesicht. »Das ist nur PMS-Geschwätz.«
    Das konnte mich nicht besänftigen. »Hast du mal dran gedacht, daß es so was wie PMS gar nicht gibt und du eben einfach so bist?«
    Jo Lynn kniff die Augen zusammen und starrte mich an, als dächte sie ernsthaft daran, über den Tisch zu springen und mir eine runterzuhauen. Dann weiteten sich ihre Augen plötzlich, die orange gemalten Lippen öffneten sich, und sie lachte wieder, nur war das Gelächter diesmal echt und herzlich, und ich konnte einstimmen.
    »Das war echt komisch«, sagte sie, und ich genoß dankbar ihr unerwartetes Wohlwollen.
    Das Telefon läutete. Es war unsere Mutter. Wie auf Kommando. Als hätte sie unser Gespräch gehört. Als wüßte sie über unsere geheimsten Gedanken Bescheid.
    »Sag ihr, daß wir gerade über sie gesprochen haben«, flüsterte Jo Lynn so laut, daß man nicht umhin konnte, sie zu hören.
    »Wie geht es dir, Mama?« sagte ich statt dessen und sah sie vor mir, wie sie am anderen Ende am Telefon saß, schon geduscht und angezogen, das kurze, gelockte Haar, das ihr schmales Gesicht umgab, frisch gekämmt, in den dunkelbraunen Augen blitzende Vorfreude auf den kommenden Tag.
    Ihre Stimme war im ganzen Zimmer zu hören. »Glänzend«,
erklärte sie. Das sagte sie immer. Glänzend – Jo Lynn sprach das Wort lautlos mit. »Und wie geht es dir, Kind?«
    »Gut, danke.«
    »Und den Mädchen?«
    »Oh, denen geht es bestens.«
    »Und mir auch«, rief Jo Lynn laut.
    »Oh, ist Jo Lynn bei dir?«
    »Ja, sie ist auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen.«
    »Grüß sie von mir«, sagte unsere Mutter.
    »Grüß zurück«, sagte Jo Lynn trocken.
    »Hör mal, Kind«, fuhr meine Mutter fort, »ich rufe an, weil ich das Rezept für den Pfirsenkuchen nicht mehr finden kann. Hast du vielleicht eine Kopie davon?«
    »Pfirsenkuchen?« wiederholte ich.
    »Ja«, sagte sie. »Du weißt doch, ich habe dir erst vor ein paar Wochen einen gebacken, und er hat dir so gut geschmeckt.«
    »Ach, du meinst den Pfirsichkuchen?«
    »Ja«, antwortete sie. »Hab ich was andres gesagt?«
    »Du hast … Ach, laß. Es ist nicht wichtig. Ich schau nachher gleich mal nach und ruf dich dann zurück. Ist dir das recht?«
    Einen Moment blieb sie still. »Ja, aber laß mich nicht zu lange warten.« Ein Anflug von Erregung hatte sich in ihre Stimme geschlichen.
    »Ist irgend etwas?« fragte ich und dachte, lieber Gott, laß alles in Ordnung sein. Schon begann der Tag sich zu trüben, der Himmel zusehends blasser zu werden.
    »Nein, nein«, beruhigte sie mich eilig. »Es ist nur wegen Mr. Emerson von nebenan. Er ist mir aus irgendeinem Grund böse. Ich habe keine Ahnung, warum, aber er war in den letzten Tagen ziemlich unfreundlich, weißt du.«
    »Unfreundlich? Inwiefern denn?« Ich kannte Mr. Emerson, einen liebenswürdigen, weißhaarigen alten Herrn, ein wenig gekrümmt vom Alter, aber immer noch gewandt und umgänglich. Seit meine Mutter vor zwei Jahren in das Palm Beach Lakes Seniorenheim übergesiedelt war, lebte er in dem Apartment neben
dem ihren. Er war der ideale Nachbar, rücksichtsvoll, freundlich, im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte. Er näherte sich allerdings den Neunzigern, da konnte natürlich alles mögliche geschehen.
    »Ich wollte ihm einen Pfirsichkuchen backen, als Friedensangebot«, fuhr meine Mutter fort. »Aber jetzt kann ich das Rezept nicht finden.«
    »Ich seh nach, ob ich es habe, und ruf dich später an«, versprach ich ihr. »Mach dir inzwischen keine Gedanken. Was es auch sein mag, er wird mit der Zeit darüber wegkommen.«
    »Wieviel Zeit hat er denn noch?« scherzte meine Mutter, und ich lachte.
    »Sag ihr, daß ich heirate«, rief Jo Lynn, als ich gerade auflegen wollte.
    »Was? Sie heiratet wieder?«
    »Du wirst begeistert sein von ihm«, sagte Jo Lynn, während ich meiner Mutter hastig zuflüsterte, es sei nur ein Scherz.
    Jo Lynn war wütend. Wieder kniff sie die grünen Augen zusammen. »Wieso hast du das gesagt? Warum mußt du sie immer schonen?«
    »Warum mußt du sie immer verletzen?«
    Eine Ewigkeit, wie mir schien, starrten wir einander wortlos an, und unsere unbeantworteten Fragen hingen wie Staubkörnchen zwischen uns in der Luft. Was ist nur los mit dir? hätte ich sie am liebsten angeschrien. Du willst doch diesen Colin Friendly nicht im Ernst

Weitere Kostenlose Bücher