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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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ich mich bei mehreren guten Pflegeheimen in der Umgebung erkundigt hatte, daß jedoch im Moment leider keine Plätze frei seien. Mit teilnahmsvoller, jedoch fester Stimme sagte Mrs. Winchell, dann müsse ich eben in weiterem Umkreis suchen, und empfahl mir mehrere Pflegeheime, bei denen ich es noch nicht versucht hatte, eines in Boca, ein zweites in Delray. Boca, erklärte ich ihr sofort, sei zu weit weg. Aber das Heim in Delray würde ich mir eventuell ansehen.

    »Bitte tun Sie das«, versetzte sie. Sie brauchte nicht hinzuzufügen, »so bald wie möglich«. Ihr Ton war klar.
    Ich schenkte mir eine frische Tasse ein und verscheuchte alle Gedanken an Mrs. Winchell und Colin Friendly. Danach machte ich das Bett, gruppierte die vierzehn Dekokisssen darauf, probierte ein neues Arrangement aus, dann noch eines und kehrte schließlich zur ursprünglichen Anordnung zurück. Als kein Kaffee mehr zu trinken, keine Kissen mehr zu ordnen, nichts mehr aufzuräumen war, rief ich in dem Pflegeheim in Delray an und bekam zu meinem größten Verdruß einen sofortigen Termin. Damit ist der Tag gelaufen, dachte ich, während ich widerwillig meine diversen Termine absagte. Warum traf es immer mich? haderte ich. Warum konnte nicht Jo Lynn wenigstens einen Teil der Verantwortung für unsere Mutter übernehmen? Hatte sie etwa Wichtigeres zu tun? Wenn sie jedes Wochenende Zeit hatte, nach Nord-Florida und zurück zu fahren, dann würde sie doch wohl eine halbe Stunde für eine Fahrt zu einem Pflegeheim in Delray erübrigen können. Und ihrem psychotischen Freund konnte sie sagen, daß er mich und meine Töchter gefälligst in Ruhe lassen solle.
    Impulsiv griff ich zum Telefon und rief meine Schwester an, mit der ich seit unserem mißlungenen Ausflug ins Gefängnis nicht mehr gesprochen hatte.
    »Dein Verlobter hat mich heute morgen angerufen«, sagte ich statt einer Begrüßung.
    »Ja, ich weiß.«
    »Ach, du weißt es.«
    »Ja, er hat mir gesagt, daß er sich entschuldigen möchte, falls es Mißverständnisse gegeben hat.«
    »Mißverständnisse?« wiederholte ich ungläubig.
    »Ich hab ihm gleich gesagt, daß es nur Zeitverschwendung ist.«
    »Wenn er mich noch einmal anruft, beschwere ich mich beim Gefängnisdirektor. Dann lassen sie ihn überhaupt nicht mehr telefonieren«, warnte ich. Wie leicht es doch war, die Verletzlichen einzuschüchtern.

    »Danke für deinen Anruf«, sagte Jo Lynn eisig.
    »Ich bin noch nicht fertig.«
    Sie wartete. Ich konnte förmlich sehen, wie sie angewidert die Augen verdrehte.
    »Mrs. Winchell hat mir mitgeteilt, daß Mama nicht in Palm Beach Lakes bleiben kann.«
    »Und?«
    »Deshalb müssen wir ihr etwas anderes suchen.«
    Schweigen.
    »Ich hab einen Termin bei einem Pflegeheim in Delray ausgemacht.«
    »Gut.«
    »Der Termin ist heute vormittag um elf. Ich bin der Meinung, du solltest dabeisein.«
    »Das seh ich nicht so.«
    »Ich dachte, du würdest vielleicht sehen wollen, wie Mama in Zukunft leben wird«, beharrte ich.
    »Meinetwegen kann sie zum Teufel gehen.«
    »Jo Lynn!«
    »Und du auch.« Sie legte auf.
    »Jo Lynn!« Ich knallte den Hörer heftig auf. »Verdammt noch mal! Warum kann ich keine normale Schwester haben?« brüllte ich wütend.
    Und brüllte immer noch, als ich schon im Auto saß und nach Delray fuhr. Brüllte und donnerte mit Vollgas den Highway hinunter, was mir prompt einen Strafzettel einbrachte. »Haben Sie eine Ahnung, wie schnell Sie gefahren sind?« fragte der Polizist, der mich an den Straßenrand gewinkt hatte. Nicht schnell genug, dachte ich.
    Mrs. Sullivan war eine mondgesichtige Frau von etwa sechzig Jahren mit einer angenehmen Stimme. Sie hatte braunes Haar, braune Augen und unnatürlich dünne Beine unter einem kompakten Körper. Freundlich führte sie mich zuerst durch den kleinen Park, der gut gepflegt und hübsch gestaltet war, und dann durch das Haus selbst, ein relativ neues Gebäude, flach und weiß;
es erinnerte mich an Häuser am Mittelmeer. Wie ein Pflegeheim sehe es nicht aus, versuchte ich mir einzureden und ignorierte beharrlich den leicht medizinischen Geruch, der in den Korridoren hing, die gedämpften Jammerlaute, die hinter einigen der geschlossenen Türen zu hören waren, die leeren Blicke und halboffenen Münder der Bewohner, die in Rollstühlen an den Wänden aufgereiht saßen.
    »Hallo, Mr. Perpich«, sagte Mrs. Sullivan heiter und erhielt keine Antwort von dem weißhaarigen, zahnlosen Mann, dessen Körper so krumm und knorrig war wie der Stamm

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