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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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aus«, wiederholte sie und wartete darauf, daß ich wieder lachen würde. Ich tat ihr den Gefallen, wenn auch alle Erheiterung verflogen war.
    »Jo Lynn hat mich gestern abend angerufen«, bemerkte meine Mutter auf der Rückfahrt zu ihrer Wohnung.
    Ich bemühte mich, keine Überraschung zu zeigen. Meine Mutter hatte jedes Zeitgefühl verloren. Gestern abend konnte alles mögliche heißen – gestern abend, letzte Woche, letztes Jahr.
    »Ach ja?«

    »Sie hat gesagt, daß sie nächste Woche heiratet.«
    »Was?« Diesmal konnte ich meine Überraschung nicht verbergen. So wenig wie meine Bestürzung.
    »Ich dachte, sie ist schon verheiratet.«
    »Sie ist geschieden.«
    »Ach, ja natürlich, sie ist geschieden. Wie konnte ich das vergessen.«
    »Jo Lynn war dreimal verheiratet«, sagte ich. »Es ist schwierig, da auf dem laufenden zu bleiben.«
    »Natürlich, ja.«
    »Und sie hat dir erzählt, daß sie nächste Woche heiratet?«
    »Ich glaube, ja. Daniel Baker, sagte sie. Ein netter Junge.«
    Meine Schultern fielen herab. Ich faßte das Lenkrad fester.
    »Dan Baker war ihr zweiter Mann, Mama.«
    »Heiratet sie ihn noch einmal?«
    »Bist du sicher, daß sie gesagt hat, sie wird ihn nächste Woche heiraten?« drängte ich.
    »Na ja, vielleicht doch nicht. Ich dachte, das hätte sie gesagt, aber jetzt bin ich nicht mehr sicher. Was ist denn aus Daniel geworden?«
    »Sie haben sich scheiden lassen.«
    »Aber warum denn? Er war doch so ein netter Junge.«
    »Er hat sie geschlagen, Mama.«
    »Er hat sie geschlagen?«
    »Ja.«
    Meiner Mutter traten Tränen in die Augen. »Wir haben zugelassen, daß er sie schlägt?«
    »Wir hatten keine Wahl. Wir haben sie gedrängt, ihn zu verlassen. Aber sie wollte nicht.«
    »Ich kann mich nicht erinnern.« Meine Mutter schlug offensichtlich frustriert mit beiden Fäusten auf ihre Schenkel. »Wieso kann ich mich nicht erinnern?«
    »Es ist vorbei, Mama. Es ist lange her. Sie sind inzwischen geschieden. Es geht ihr gut.«
    Meine Mutter starrte mit verängstigtem Gesicht zum Fenster
hinaus. Ihre Hände krampften sich in den Stoff ihres Kleides. »Was ist mit mir los?« fragte sie. Ihre Stimme klang dünn und hoch wie die eines Vogels. »Was passiert mit mir?«
    Ich schluckte. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Dr. Caffery hatte die verschiedenen Möglichkeiten mit ihr besprochen, auch die Alzheimersche Krankheit, aber meine Mutter schien dieses Gespräch vergessen zu haben. Hatte es Sinn, das alles noch einmal zu wiederholen?
    »Wir wissen es nicht mit Sicherheit, Mama«, sagte ich. »Deshalb werden jetzt erst mal diese vielen Untersuchungen gemacht. Es kann was Organisches sein, ein Verschluß irgendwo vielleicht, oder ein gutartiger Tumor, den man entfernen kann, oder vielleicht wirst du einfach vergeßlich. Das geht den meisten Menschen so, wenn sie älter werden. Das heißt nicht unbedingt, daß es Alzheimer ist«, erklärte ich, mehr um meinet- als um ihretwillen. »Ich kann mir vorstellen, wie frustrierend es für dich sein muß, aber wir kommen den Dingen bestimmt bald auf den Grund, und es wird hoffentlich Möglichkeiten geben, etwas dagegen zu tun. Du weißt doch, wie das mit der Medizin ist. Es werden jeden Tag neue Heilmittel entdeckt.«
    Meine Mutter lächelte, und ich tätschelte ihr tröstend die Hand. Sie schloß die Augen und nickte ein. Den Rest des Wegs fuhr ich schweigend, nur in Gesellschaft meiner Gedanken. Meine Mutter würde wieder gesund werden, versicherte ich mir. Es war nur ein vorübergehendes Problem, zweifellos etwas, das zu beheben war. Eine dies er vielen Röntgenaufnahmen würde bestimmt etwas zeigen, und es würde klein und gut behandelbar sein, und meine Mutter würde wieder die alte werden, ganz und heil.
    Ich fuhr auf den Parkplatz des Seniorenheims, zog den Zündschlüssel ab und weckte meine Mutter behutsam. Sie öffnete die Augen und lächelte liebevoll. »Jo Lynn hat mich gestern abend angerufen. Sie heiratet nächste Woche.«
     
    »Jetzt reg dich mal nicht gleich auf«, sagte Larry, während ich nervös in der Küche hin und her lief.

    »Bitte, sag du mir nicht, daß ich mich nicht aufregen soll.«
    »Mrs. Winchell wird sich das bestimmt noch einmal überlegen.«
    »Nein, ganz sicher nicht.«
    »Kate, beruhige dich! Komm, setzen wir uns und reden darüber.«
    »Was gibt’s da noch zu reden?« Ich ließ mich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen, sprang sofort wieder auf und begann von neuem auf und ab zu gehen, diesmal vor dem Fernsehapparat. »Du

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