Am Seidenen Faden
eines lang abgestorbenen Baums.
Und ich sollte meine Mutter in so ein Heim abschieben? Wie gejagt rannte ich zu meinem Wagen. »Sei nicht albern«, sagte ich laut, während ich den Zündschlüssel einschob. »An dem Heim gibt’s überhaupt nichts auszusetzen. Es ist völlig in Ordnung, viel angenehmer als die Heime, die du dir in Palm Beach angesehen hast.« Was sagte ich immer meinen Klienten, die sich in einer ähnlichen Lage befanden? Sie müssen an sich selbst denken. Ihre Mutter wird dort glücklicher sein. Dort hat sie Menschen, die sich um sie kümmern. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, daß sie die Treppe hinunterstürzt oder nicht genug ißt. Sie können ihr normales Leben wiederaufnehmen.
Natürlich. Leicht gesagt.
Wie konnte ich mein normales Leben weiterführen, wenn die Frau, die mir dieses Leben gegeben hatte, im Begriff war, das ihre zu verlieren? Wie sollte ich es fertigbringen, sie in eine völlig fremde Umgebung abzuschieben, wo die Korridore zwar sauber und hell, aber steril waren, wo sie stundenlang irgendwo in einem Rollstuhl sitzen und ins Leere starren würde, in eine Vergangenheit, zu der sie keinen Zugang mehr hatte, in eine Zukunft ohne Hoffnung. Jahrelang konnte sie noch so dahinvegetieren, nicht mehr lebendig und doch auch noch nicht tot. Ich konnte mein Leben nicht auf unbestimmte Zeit aussetzen. Aber sie war meine Mutter, und ich liebte sie, ganz gleich, wie stark ihr Verfall war. Ich konnte sie noch nicht loslassen.
Dennoch, daran, daß sie dort, wo sie jetzt war, nicht länger bleiben konnte, gab es nichts zu rütteln. Wenn ich nicht bereit war, sie in ein Pflegeheim zu geben, blieb nur eine Alternative. »Was würdest du dazu sagen, wenn meine Mutter eine Weile zu uns ziehen würde?« übte ich vor dem Rückspiegel und sah, wie mein Mann erschrocken die Augen aufriß. »Es wäre ja nur vorübergehend. Ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate. Bestimmt nicht länger, das verspreche ich.«
»Aber du bist doch den ganzen Tag weg. Wer soll sich um sie kümmern, wenn du in der Praxis bist?«
»Wir könnten doch eine Pflegerin einstellen. Bitte, würdest du es für mich tun?«
Ich wußte, daß er es tun würde. Mochte er noch so große Vorbehalte haben, Larry würde alles tun, um mich glücklich zu machen, das wußte ich.
Also, was soll ich tun? fragte ich mich wiederholt, während ich ziellos durch die Straßen von Delray fuhr. Das elfstöckige Bürogebäude, in dem der Radiosender WKEY seine Räume hatte, tauchte plötzlich vor mir auf wie eine Fata Morgana in der Wüste. War das die ganze Zeit schon mein Ziel gewesen?
»Das ist aber eine nette Überraschung«, sagte Robert, als ich in sein Büro trat, und schloß die Tür hinter mir.
Ich drehte mich herum und ließ mich von ihm in die Arme nehmen. Sein Gesicht verschwamm, als er mich küßte, mein Körper drängte sich mit einer Begierde, von der ich nichts geahnt hatte, an ihn. »Ich kann nicht glauben, daß ich das tue«, hörte ich mich sagen, doch die Worte kamen nicht über meine Lippen.
Er trat zurück, nur einen kleinen Schritt, und zog mich mit sich wie ein Magnet.
»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du kommst?«
»Ich hab’s selbst nicht gewußt.«
»Ich hab gleich eine Verabredung zum Mittagessen.«
»Ich kann nicht bleiben.«
Er küßte mich auf den Mundwinkel, auf die Nasenspitze. »Ich hätte mir die Zeit freigehalten.«
»Das nächste Mal.«
»Wann?«
»Was?«
»Wann ist das nächste Mal?«
Er küßte meine Stirn, meine Wangen, meinen Hals. »Wann?« wiederholte er.
»Ich weiß nicht. Mein Leben ist im Moment völlig durcheinander.«
»Es scheint dir aber gut zu tun. Du siehst unglaublich sexy aus.«
Ich sagte nichts.
»Du machst mich ganz verrückt, weißt du das?«
Dann küßte er mich wieder, diesmal voll auf die Lippen, unsere Münder waren geöffnet, unsere Zungen spielten miteinander, und plötzlich war ich wieder siebzehn, und er drückte mich an die harte Backsteinmauer der Schule, sein Knie schob meine Beine auseinander, während seine Hand sich unter meine Bluse stahl.
»Nein, ich kann nicht«, sagte ich und wich zurück, schlug mir dabei den Kopf am Fenster seines Luxusbüros an und wurde auf diese Weise unsanft in die Gegenwart zurückgeholt. »Du bist zum Mittagessen verabredet«, sagte ich schnell, während ich mich bemühte, wieder zu Atem zu kommen, und meine Bluse in meinen Rock stopfte. »Und ich muß los.«
»Wir haben noch ein paar Minuten.« Er drängte mich
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