Am Seidenen Faden
schien.
»Besonders gefallen hat’s mir nicht«, wiederholte sie ein drittes Mal, dann schwiegen wir beide, bis die Röntgenassistentin kam und meiner Mutter mitteilte, die Aufnahmen seien in Ordnung, sie könne sich jetzt anziehen.
»Du kannst dich wieder anziehen, Mama«, wiederholte ich, als meine Mutter nicht reagierte.
Sofort zog sie sich den Kittel von den Schultern.
»Nicht hier, Mama. In der Kabine.«
»Natürlich, Kind.«
Ich führte sie zu dem kleinen Umkleideraum. Ein drückender Kloß saß mir in der Brust, als hätte ich mich an irgend etwas verschluckt, das nicht tiefer rutschen wollte. Ich wußte, was vorging. Mittlerweile hatte ich einiges über die Alzheimersche Krankheit gelesen, und daher wußte ich ziemlich genau, was ich zu erwarten hatte. Letztendlich lief es darauf hinaus, daß meine Mutter zu meinem Kind werden würde. Sie würde regredieren, immer mehr Teile ihrer selbst verlieren, ihre Identität abwerfen wie eine Schlange ihre alte Haut. Bald würde von der Frau, die sie einmal gewesen war, nichts mehr übrig sein. Sie würde alles verlernen –
das Lesen, das Schreiben, das Sprechen. Ihre Kinder würden ihr fremd werden, sie würde sich selbst fremd werden. Eines Tages würde ihr Gehirn einfach vergessen, ihrer Lunge den Befehl zum Atmen zu geben, und sie würde sterben.
Damals schien mir, der Verfall meiner Mutter wäre sehr plötzlich eingetreten, aber in der Rückschau sehe ich, daß er sich jahrelang angekündigt hatte. Sie wirkte oft zerstreut und unbestimmt, manchmal verwirrt, Unterhaltungen mit ihr waren freundlich, aber im wesentlichen leer. Sie vergaß vieles, sprach einzelne Wörter falsch aus, gelegentlich konnte sie sich an gar nichts erinnern.
Geht uns das nicht allen so? hatte ich mir gesagt, ohne diese Anzeichen besonders zu beachten. Und wenn man sich im Gespräch mit ihr manchmal vorkam, als unterhielte man sich mit der Frau vom Wetterdienst – na wenn schon. Das Wetter, das Essen, die Verdauungsbeschwerden – das waren in einem Seniorenheim wahrscheinlich heiße Themen. Sie hatte in ihrem Leben Aufregung genug gehabt. Wenn sie jetzt endlos über das Wetter spekulieren wollte, so sollte ihr das vergönnt sein.
Und selbstverständlich gab es Zeiten, da war sie ganz da, witzig und schlagfertig, scheinbar normal; da zeigten sich Funken ihres alten Selbst, um uns daran zu erinnern, daß sie noch nicht ganz verschwunden war, daß ein Teil von ihr noch Widerstand leistete und um die Oberhand kämpfte. Ein Stück von ihr hier, ein Stück von ihr da. Sie warf sie mir zu wie Brotkrumen einem hungrigen Vogel. Vielleicht versuchte sie wie Hänsel und Gretel eine Spur zu legen, einen Weg, auf dem sie nach Hause finden konnte, zurück zu dem Selbst, das sie verloren hatte.
»Bist du fertig?« fragte ich nach ein paar Minuten und klopfte an die Tür der Umkleidekabine.
Sie antwortete nicht. Ich klopfte noch einmal und öffnete vorsichtig die Tür. Sie stand splitternackt in dem kleinen Raum, die Arme schützend über ihren hängenden Brüsten. Ihre Rippen traten unter der Haut hervor, die bläulich schimmerte wie entrahmte Milch.
»Mir ist so kalt«, sagte sie und sah mich an, als wäre es meine Schuld.
»Ach Gott, Mama. Komm, ich helfe dir.« Ich trat in die Kabine, schloß die Tür hinter mir und bückte mich, um ihre Kleider vom Boden aufzuheben.
»Was tust du da?« Ihre Stimme war ängstlich. Sie schien am Rand einer Panik zu sein.
»Ich suche deine Unterwäsche.«
»Was tust du mit mir?« fragte sie wieder.
»Beruhige dich, Mama«, sagte ich. »Es ist alles in Ordnung. Ich will dir nur helfen.«
»Wo sind meine Sachen?« schrie sie. Heftig fuhr sie herum und stieß mich gegen die Wand.
»Sie sind hier, Mama. Komm, versuch dich zu beruhigen. Hier ist dein Schlüpfer.« Ich hielt ihr den rosafarbenen Schlüpfer hin. Sie starrte ihn an, als hätte sie so etwas noch nie gesehen. »Du mußt hineinsteigen«, sagte ich und half ihr erst mit dem einen Fuß, dann mit dem anderen in den Schlüpfer, um ihn schließlich hochzuziehen.
Ihr den Büstenhalter anzuziehen nahm noch einmal fünf Minuten in Anspruch, ebenso der Kampf mit ihrem cremefarbenen Kleid. Als wir endlich aus der engen Kabine traten, war ich in Schweiß gebadet und völlig außer Atem.
»Alles in Ordnung, Kind?« fragte meine Mutter, als wir auf die Straße hinaustraten. »Du siehst ein bißchen mitgenommen aus.«
Ich lachte. Was hätte ich sonst tun sollen?
»Du siehst ein bißchen mitgenommen
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