Am Seidenen Faden
der Junge. Ich stellte ihn mir faul ausgestreckt auf dem Sofa im Wohnzimmer vor, mit einer großen Schüssel Kartoffelchips neben sich.
Ich legte auf, unschlüssig, was ich jetzt tun sollte.
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte Sara. »Du kennst doch Michelle. Sie kommt bestimmt pünktlich um Mitternacht nach Hause.«
Ich sah auf meine Uhr. Es war gerade acht. Noch fast vier Stunden bis Mitternacht. Ob ich es so lange aushalten konnte? Ich warf einen Blick auf meinen Anrufbeantworter; keine Nachrichten.
»Warum bist du so unruhig?« fragte Sara mit einem ersten Anflug von Furcht in den Augen.
»Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich wüßte, wo sie ist.«
Meine Mutter begann zu weinen. Sie schwankte unsicher von einer Seite zur anderen. »Ich möchte gern nach Hause«, sagte sie.
»Beruhige dich, Mama. Es ist alles in Ordnung.«
Ich bat Sara, ihre Großmutter zu Bett zu bringen und bei ihr zu bleiben, bis sie eingeschlafen war. Dann ging ich ins Schlafzimmer und rief die Polizei an.
»Mein Name ist Kate Sinclair«, sagte ich leise, um nicht von Sara gehört zu werden.
»Entschuldigen Sie«, antwortete der Beamte am Telefon, »würden Sie bitte etwas lauter sprechen.«
Ich wiederholte meinen Namen etwas lauter und buchstabierte ihn. »Meine Schwester ist Jo Lynn Baker«, fuhr ich fort. »Jo Lynn Friendly «, verbesserte ich mich sofort.
»Ihre Schwester ist Jo Lynn Friendly?« Unterdrücktes Gelächter in seiner Stimme verriet mir, daß er mir nicht glaubte.
»Ja, und ich habe Angst, daß Colin Friendly hierherkommt.«
»Und wo ist das?« Wieder dieser amüsierte Unterton.
Ich gab ihm meine Adresse.
»Und wie kommen Sie darauf, daß Colin Friendly nach Palm Beach kommen könnte?«
Ich berichtete ihm von Colins Anruf und Brief.
»Haben Sie das der Polizei erzählt?« fragte der Beamte.
»Nein. Es wäre wahrscheinlich gescheiter gewesen, ich …«
»Haben Sie den Brief noch?«
»Den hab ich zerrissen«, bekannte ich verlegen.
»Können Sie einen Moment am Apparat bleiben?« Er klinkte sich aus, ehe ich Einwände erheben konnte.
Ich nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernsehapparat ein. Prompt erschien Colin Friendlys Mördergesicht auf dem Bildschirm und wurde dann von Aufnahmen meiner Schwester im Gerichtssaal abgelöst. »Wo seid ihr?« zischte ich. »Wo zum Teufel seid ihr?«
Der Polizeibeamte meldete sich wieder. »Wir schicken Ihnen jemanden vorbei«, sagte er.
Um ein Uhr morgens saß ich immer noch vor dem Fernseher, starrte in Colin Friendlys mordlustig lächelndes Gesicht und hörte mir Berichte über seine Greueltaten an. Die Polizei war da gewesen und wieder gegangen. Und Michelle war immer noch nicht zu Hause.
Um halb zwei rannte ich rastlos im Wohnzimmer hin und her und überlegte, ob ich Larry anrufen sollte.
Um zwei war ich in Tränen aufgelöst und dachte daran, noch einmal bei der Polizei anzurufen. Sie hatten mir versprochen, die Umgebung zu überwachen, obwohl sie überzeugt waren, daß
Colin Friendly auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung war. Bisher hatte ich nicht einen Streifenwagen vorbeifahren sehen.
Um halb drei, als ich endlich Michelles Schlüssel in der Haustür hörte, war ich so fertig, daß ich nicht wußte, ob ich sie in die Arme schließen oder anschreien sollte. Ich tat beides.
Ich rannte ihr mit ausgestreckten Armen und völlig verheultem Gesicht entgegen. »Wo zum Teufel bist du so lange gewesen?« Ich drückte sie so fest an mich, daß sie nicht antworten konnte. »Ist dir klar, wie spät es ist?«
Sie begann sofort zu jammern. »Es tut mir so leid, Mama. Wir waren auf einer Party und ich mußte warten, bis mich jemand mitgenommen hat.«
»Du hättest ein Taxi nehmen können. Oder mich anrufen können. Ich hätte dich abgeholt.«
»Es war so spät. Ich dachte, du schläfst schon. Ich wollte dich nicht wecken.«
»Kannst du dir eigentlich vorstellen, was für Angst ich um dich gehabt habe?«
»Es tut mir leid, Mama. Wirklich.«
»Es ist halb drei Uhr morgens.«
»Es kommt bestimmt nie wieder vor.«
»Darauf kannst du dich verlassen, daß das nicht wieder vorkommt.«
»Was willst du tun?«
»Ich weiß nicht.« Ein bekannter Geruch stieg mir in die Nase. »Hast du geraucht?«
»Nein.« Sie wich vor mir zurück.
»Du stinkst nach Zigaretten.«
»Viele auf der Party haben geraucht.«
»Aber du nicht.«
»Nein. Ehrlich.«
Ich schloß die Augen und rieb mir die Stirn. Hatte ich völlig den Verstand verloren? Noch vor
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