Am Seidenen Faden
daß es beinahe blendet. »Stell dir einen Pulli in dieser Farbe vor«, hörte ich Jo Lynn sagen und merkte plötzlich, daß mir die Tasse zu entgleiten drohte.
Ich faßte den Henkel fester. So fest, daß ich ihn beinahe abgebrochen hätte. »Mensch, entspann dich«, sagte ich laut. »Der Tag hat doch noch gar nicht angefangen.«
»Mit wem redest du?« fragte jemand hinter mir, und ich fuhr zusammen. Der Kaffee schwappte aus der Tasse wie Lava aus einem Vulkan. Er verbrannte mir die Hände und drang heiß durch mein gelbes T-Shirt. Der braune Fleck, der zurückblieb, hatte eine unangenehme Ähnlichkeit mit getrocknetem Blut.
»Geht’s dir nicht gut?« rief Sara und lief zu mir. Sie nahm mir die Tasse aus den Händen und stellte sie auf den Tisch. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Macht nichts«, sagte ich. »Bringst du mir bitte was zum Abwischen?«
»Sofort.« Sara rannte in die Küche, holte einen feuchten Lappen und tupfte mein T-Shirt ab. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie wieder, und ich sah die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten.
»Ist ja gut, Sara. Mir fehlt nichts.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht.«
»Es tut mir so leid.«
Ich sah ihr in das schöne Gesicht. Ich wußte, daß sie sich für mehr entschuldigte als den vergossenen Kaffee.
»Ich weiß«, sagte ich. »Mir tut es auch leid.«
»Ich weiß nicht, was manchmal in mich fährt. Ich werde einfach so wütend.«
Ich sagte nichts.
»Ich hab dich lieb«, sagte sie.
»Ich dich auch.«
»Wirklich?« fragte sie.
»Wirklich.«
Sara biß sich auf die zitternde Unterlippe. »Wie kannst du mich liebhaben, wo ich doch so unmöglich bin?«
»Du bist nicht unmöglich, Sara.«
»Aber Michelle führt sich nie so auf wie ich.«
»Michelle ist eben anders.«
»Sie ist so klar. Sie weiß, wer sie ist. Sie weiß, was sie will.«
»Was willst du denn?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts. Ich bin so doof.«
»Du bist alles andere als doof.«
»Ja, aber warum mach ich dann so doofe Geschichten?«
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete ich aufrichtig. »Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn du mal eine Therapie machst.«
»Du bist doch Therapeutin.«
»Ich bin auch deine Mutter. Und das eine scheint sich mit dem anderen nicht vereinbaren zu lassen.«
Sara versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Gibt es was Neues von Jo Lynn?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, es zu hören.«
Sara nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher ein. Sie orgelte mehrere Sonntag-Morgen-Predigten durch, ehe sie auf eine Nachrichtensendung stieß. Ich hörte zerstreut zu, während ein jungenhaft hübscher Sprecher mir das Neueste aus der Weltpolitik erzählte. Mit einem Knopfdruck war er verschwunden, von einem anderen jungenhaft hübschen Sprecher
verdrängt. Heftige spätwinterliche Stürme näherten sich dem Nordosten des Landes und brächten dichten Schneefall mit, verkündete er, während Bilder von rasenden Winden und Schneegestöber über den Bildschirm flimmerten.
Plötzlich löste sich der Schnee im strahlenden Sonnenschein Floridas auf, und ich starrte auf einen klapprigen alten roten Toyota, der vor einem schäbigen Motel stand und von Horden von Polizeibeamten umgeben war. »Mein Gott«, sagte ich atemlos und beugte mich vor.
»Wie die Polizei berichtet, wurde das Fahrzeug, von dem man glaubt, daß es bei der Flucht Colin Friendlys gestern nachmittag aus dem Union Correctional Institution in Florida benutzt wurde, inzwischen gefunden«, begann der Sprecher. »Ein roter Toyota, Baujahr 87, der vermutlich Jo Lynn Baker, der Ehefrau des verurteilten Serienmörders gehört, wurde in einem Waldstück in der Nähe des Wayfarer’s Motel am Stadtrand von Jacksonville, Florida, heute morgen sichergestellt.«
»Jacksonville?« fragte Sara, meine Gedanken wiedergebend. »Sie sind nur bis Jacksonville gekommen?«
»Die Polizei macht keine Angaben dazu, ob das flüchtige Paar sich noch in der Gegend von Jacksonville aufhält«, fuhr der Sprecher fort, während Fotos von Colin Friendly und meiner Schwester auf dem Bildschirm erschienen. »Die Polizei erinnert noch einmal daran, daß Colin Friendly und seine Frau höchstwahrscheinlich bewaffnet und äußerst gefährlich sind. Wenn Sie sie sehen oder Informationen über ihren Aufenthaltsort haben, setzen Sie sich bitte unverzüglich mit der Polizei in Verbindung. Unter keinen Umständen sollten Sie sich den
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