Am Seidenen Faden
einem selbstsicheren Lächeln zu den Aufzügen ging.
Und dann rannte ich zum Hoteleingang, als wäre der Teufel hinter mir her, als ginge es um Leben und Tod.
Und vielleicht war es ja auch so.
30
Sobald ich zu Hause war, rief ich bei Jo Lynn an. Immer noch meldete sich nur der Anrufbeantworter. Ich versuchte es in dem Motel in Starke, in dem sie gewöhnlich an den Wochenenden abstieg. Der Manager teilte mir mit, er habe Jo Lynn schon seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen, und legte auf, ehe ich ihn nach
Namen anderer Motels in der Gegend fragen konnte. Ich überlegte, ob ich die Polizei anrufen sollte oder vielleicht im Gefängnis, aber ließ dann beides. Was wollte ich denn sagen? Was konnten sie schon tun?
»Sie hat wohl nicht angerufen?« fragte ich meine Töchter.
Sie schüttelten die Köpfe.
Ich dachte an Robert, fragte mich, ob er immer noch im Hotel saß und auf mich wartete, ob er vielleicht Champagner bestellt hatte, ob er langsam ungeduldig wurde, verdrießlich, ärgerlich. »Hat sonst jemand angerufen?« fragte ich.
»Wer denn zum Beispiel?« fragte Sara.
»Ich weiß auch nicht.« Mir fiel auf, daß sie sich die Haare gewaschen und sich umgezogen hatte. Sie trug eine überraschend schicke beige Hose und einen passenden Pulli dazu. »Hast du noch Lust ins Kino zu gehen?«
»Warum nicht?« Sie versuchte sehr, die Gleichgültige zu spielen, und es wäre ihr auch fast gelungen.
»Und du, Michelle? Hast du Lust auf Kino?«
»Ich kann nicht«, antwortete sie. »Ich geh doch zu Brooke.«
»Ach ja, richtig. Das hatte ich vergessen.« Ich sah mich um. »Wo ist Großmama? Schläft sie?«
»Sie ist in ihrem Zimmer«, sagte Sara. »Sie war irgendwie komisch.«
»Komisch? Wie meinst du das?«
»Hallo, Schatz«, sagte meine Mutter, als hätte sie in den Kulissen gestanden und nur auf das Stichwort für ihren Auftritt gewartet. Mit der Handtasche unter dem Arm kam sie in die Küche. »Hab ich richtig gehört, wir gehen ins Kino?«
Sara wählte einen sehr populären Film aus, und das Kino war fast voll, obwohl es die Nachmittagsvorstellung war und draußen die Sonne schien. Wir fanden ziemlich weit vorn noch drei Plätze.
»Ist dir das recht so, Mama?« fragte ich.
Sie sagte nichts. Sie hatte, seit wir das Haus verlassen hatten, nicht ein Wort gesprochen.
»War sie auch so still, während ich weg war?«
Sara nickte. »Nur ab und zu hat sie plötzlich geschrien.«
»Sie hat geschrien?«
»Ja, ab und zu.«
»Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?«
»Hab ich doch.«
»Du hast gesagt, sie sei komisch gewesen. Von dem Schreien hast du nichts gesagt.«
»Sch!« zischte jemand, als es im Saal dunkel wurde.
Das erstemal schrie sie während der Vorschau. Es war ein durchdringendes Heulen, ähnlich dem einer Sirene, und es erschreckte mich fast zu Tode, ganz zu schweigen von den Leuten um uns herum, die alle von ihren Sitzen in die Höhe fuhren.
»Mama, was ist denn?«
»Ist alles in Ordnung?« fragte die Frau direkt vor uns.
»Mama, geht’s dir gut?«
Sie starrte mit aufgerissenen Augen zur Leinwand und gab keine Antwort.
»Es ist schon in Ordnung«, versicherte ich den Leuten rundherum.
Das nächstemal schrie sie ungefähr zehn Minuten nach Beginn des Hauptfilms. Wieder sprangen die Leute um uns herum aus ihren Sitzen auf, während in den weiter entfernten Reihen gekichert und zornig gezischt wurde. Zwei Leute am Ende unserer Reihe standen auf und setzten sich woandershin.
»Bitte entschuldigen Sie«, flüsterte ich in die Dunkelheit. »Es tut mir wirklich leid. – Mama, was ist denn los? Tut dir was weh? Möchtest du gehen?«
»Sch!« zischte jemand laut.
Meine Mutter sagte nichts. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, scheinbar ganz ruhig, als wären die bösen Geister nun ausgetrieben. Ich versuchte, mich zu entspannen, auf das zu achten, was auf der Leinwand geschah, aber es gelang mir nicht. Ständig wartete ich auf den nächsten Schrei, innerlich darauf gefaßt, meine Mutter sofort aus dem Saal zu bringen, wenn es wieder losging.
Aber es wiederholte sich nicht. Sie nickte ein und erwachte erst, als der Abspann lief.
»Wie geht es dir?« fragte ich sie, als die Lichter angingen.
»Glänzend«, antwortete sie.
Wenigstens hatte sie mich von Robert abgelenkt. Das wurde mir klar, als wir zum Ausgang gingen. Ich überlegte, wie lange er wohl im Hotel gewartet hatte und ob er versucht hatte, mich anzurufen, um zu sehen, ob ich da sei, ob etwas passiert sei.
Draußen im Foyer ging
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