Am Seidenen Faden
ich sofort zum Münztelefon und fragte meinen Anrufbeantworter ab. Es hatte niemand angerufen.
Wir gingen in ein kleines italienisches Restaurant in der Nähe. Es war hell erleuchtet und in den italienischen Nationalfarben ausgestattet – Rot, Weiß und Grün. Wir bestellten eine große Pizza mit allem und dazu einen gemischten Salat mit Gorgonzolasoße.
»Und hast du ein Heim für Großmama gefunden?« fragte Sara, während wir auf unser Essen warteten.
»Was?« Ich starrte durch das Fenster hinaus zum Parkplatz und überlegte, wo Robert jetzt sein mochte, was er wohl tat. Im Grund wunderte es mich nicht, daß er nicht angerufen hatte. Und ich war auch nicht sonderlich enttäuscht darüber, wie ich mit Erleichterung feststellte.
»Ich hab gefragt, ob du was für Großmama gefunden hast.«
»Nein.« Ich sah die fremde Frau mir gegenüber an, die einmal meine Mutter gewesen war. Im grellen Licht des kleinen Raums war die Leere ihrer Augen unübersehbar, und die harten Schatten verliehen ihren Zügen etwas Gespenstisches. Sie sah beinahe unirdisch aus, wie ein fremdartiges Geschöpf, das irgendwie in unsere Mitte geraten war. Mir fiel der Werbeslogan eines alten Horrorfilms ein: »Erst holen sie eure Körper, dann kommen sie wieder und holen euren Geist.« Nur schien es in der Realität umgekehrt abzulaufen, in diesem Fall zumindest. Meiner Mutter war der Geist genommen worden, während ihr Körper noch einigermaßen intakt war. Nein, dachte ich, meinen Blick starr auf die Frau gerichtet, die mich vor fast einem halben Jahrhundert
zur Welt gebracht hatte, nein, diese Frau war nicht meine Mutter. Dieses Wesen mit der Porzellanhaut und den leeren Augen hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit meiner Mutter.
Wir aßen schweigend, bedrängt von der lauten Stimme des Mannes am Nebentisch, der sich über den Film ausließ, den wir gerade gesehen hatten. Eine interessante Idee, aber ein mittelmäßiges Drehbuch, dozierte er, wahrscheinlich das Ergebnis zu vieler Köche, die den Brei verdorben hatten. Die Schauspieler seien ganz ordentlich gewesen, aber auch nicht mehr; der Regie habe es an Eindeutigkeit gemangelt. Die Kameraführung sei wenig originell gewesen. Entschieden ein bescheidenes Werk. Kaum der Erwähnung wert.
Sara schnitt ein Gesicht, biß von ihrem Stück Pizza ab. Käse und Tomatensoße tropften auf den Teller. »Wie hat dir der Film gefallen, Großmama?«
»Ich habe es nicht gewußt«, antwortete meine Mutter mit furchtsamem Blick.
»Du weißt nicht, ob dir der Film gefallen hat?«
»Ich habe es nicht gewußt«, wiederholte meine Mutter. Sie ließ ihre Pizza fallen und grapschte mit beiden Händen in die Luft.
Ich beugte mich über den Tisch, umfaßte die Hände meiner Mutter und zog sie herunter. »Es ist ja gut, Mama. Es ist alles gut jetzt.«
»Was ist denn los?« fragte Sara.
»Ich habe versucht, dich zu schützen«, sagte meine Mutter. »Ich habe immer versucht, dich zu schützen.« Sie stand halb von ihrem Stuhl auf.
»Das weiß ich, Mama.«
»Es ist die Aufgabe einer Mutter, ihr Kind zu beschützen.«
»Es ist ja gut, Mama. Es ist alles gut.«
»Niemals hätte ich zugelassen, daß jemand meinen Kindern was antut.«
»Das weiß ich, Mama. Bitte setz dich wieder. Komm, setz dich wieder hin.« Ich zog sie wieder auf ihren Stuhl.
»Ich hab einen Kaiserschnitt gehabt, weißt du«, sagte sie. »Ich
hatte eine schlimme allergische Reaktion auf das Pflaster. Meine Haut ist sehr sensibel.«
»Ich weiß.«
Sie begann mit beiden Händen ihren Bauch zu kratzen. »Es juckt schrecklich. Aber ich darf eigentlich nicht kratzen.«
»Ich hab Angst«, sagte Sara.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Schatz. Großmama ist nur ein bißchen durcheinander.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Jo Lynn«, flüsterte meine Mutter und hob die Hand, um Saras Wange zu streicheln. »Mami ist ja da. Ich beschütze dich.«
Nach dem Essen führten wir meine Mutter zum Wagen und setzten sie auf den Rücksitz. Sobald ich den Motor anließ, ging das Radio an und berieselte uns mit Country-Musik.
»Wie kannst du nur diesen Mist anhören?« fragte Sara und schaltete die einzelnen Sender durch, hier ein Trällern, dort ein Akkord, alles schon wieder verklungen, ehe ich es aufnehmen konnte. Ist ja egal, dachte ich und schnappte ein paar abgerissene Worte auf.
»Er entkam offenbar …«
Sara schaltete schon zum nächsten Sender. Heavy Metal Klänge donnerten gegen meine Ohren. Schnell schaltete sie weiter. You
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