Am Seidenen Faden
ein paar Minuten hatte ich Todesängste ausgestanden, daß ihr etwas zugestoßen sein könnte;
und jetzt regte ich mich darüber auf, daß sie vielleicht geraucht hatte. Ich bin einfach zu alt, dachte ich und sperrte die Haustür ab. Klimakterium und pubertierende Töchter – das ist zuviel.
»Geh zu Bett«, sagte ich. »Wir reden morgen.«
»Es tut mir wirklich leid, Mama.«
»Ich weiß.«
»Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.« Noch einmal drückte ich sie fest an mich. »So, und jetzt geh schlafen.«
Ich sah ihr nach, als sie davonging, dann holte ich mir ein Glas Eiswasser. Durch das Küchenfenster blickte ich hinaus zu den Sternen am dunklen Himmel, suchte den hellsten und sprach einen Wunsch aus. »Ich wünsche mir, daß alles wieder normal wird«, sagte ich und ging ins Wohnzimmer zurück, an der Frühstücksnische vorbei, die weniger als acht Stunden später in Blut schwimmen würde.
31
Ich zog mich aus, wusch mich, putzte mir die Zähne und kroch ins Bett. Erschöpfung senkte sich auf mich wie eine dicke Staubschicht. Sie verstopfte mir Nase und Mund, kroch in meine Poren, drängte sich unter meine Haut, ließ sich in meinen Eingeweiden nieder wie ein Bandwurm, der groß und dick wird, während sein Wirt verfällt und stirbt.
Überraschenderweise schlief ich sehr gut.
Nichts störte meinen Schlaf, keine Träume, keine nächtlichen Geräusche, kein blindes Erwachen, keine quälenden Gedanken über falsche Entscheidungen oder schlimme Erinnerungen. Ich dachte an nichts und niemanden – nicht an Larry, Robert oder Colin Friendly, nicht an Sara, Michelle oder Jo Lynn. Nicht an meine Mutter, meinen Vater oder meinen Stiefvater. An niemanden.
Kaum hatte ich den Kopf auf das Kissen gelegt, waren alle Gedanken wie ausgelöscht.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, war es acht Uhr, und die Sonne schien durch die Vorhänge. »Und wieder ein Tag im Paradies«, sagte ich, schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Während ich duschte, mich ankleidete und mit meinem Haar herumexperimentierte, bis es nicht mehr wollte und nur noch strähnig herabhing, verdrängte ich erfolgreich alle düsteren Gedanken. Nur widerwillig verließ ich schließlich das schützende Gehäuse meines Schlafzimmers und trat in den Flur hinaus, die Hände über meiner Brust gekreuzt, als müßte ich mein Herz schützen.
Ich starrte die Haustür an. Auf der anderen Seite wartete die Morgenzeitung, von deren erster Seite mir zweifellos das Gesicht meiner Schwester entgegenblicken würde. Ich schloß die Augen und wandte mich von der Tür ab. »Nicht bevor ich einen Kaffee getrunken habe«, sagte ich laut und streckte die Arme aus, als könnte ich so die Realität auf Abstand halten.
Ich weiß nicht, was mir durch den Kopf ging, während ich den Kaffee machte. Wahrscheinlich bemühte ich mich nach Kräften, überhaupt nichts zu denken, aber das machte alles nur schlimmer. Hatte meine Schwester wirklich etwas mit Colin Friendlys Flucht zu tun? Wie weit war sie bereit zu gehen, um ihm zu helfen? Was würde mit ihr geschehen, wenn Colin Friendly gefaßt wurde, was zweifellos früher oder später der Fall sein würde? Würde man ein Verfahren gegen sie einleiten? Würde sie ins Gefängnis kommen? Oder würde der Richter sie für seelisch labil erklären und sie zwingen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben? Gab es irgendeine Möglichkeit, daß dieses Fiasko doch noch zu einem guten Ende kommen würde?
Ich sah zum Fernsehapparat hinüber. Vielleicht waren meine Schwester und Colin Friendly bereits geschnappt worden. Wie lange konnten sie sich versteckt halten? Sie waren nicht gerade das unauffälligste Paar und hätten auch Aufmerksamkeit erregt, wenn ihre Gesichter nicht monatelang die Titelblätter der Zeitungen
und Boulevardblätter geziert hätten. Jo Lynns klappriger alter Toyota war kaum das ideale Fluchtfahrzeug. Bestimmt hatte inzwischen jemand sie gesehen. Aber ich schaltete den Fernseher nicht ein. Ganz egal welche Neuigkeiten es gäbe, sie würden nicht gut sein.
Statt dessen griff ich nach einer Kaffeetasse, nahm eine mit einem rosa Flamingo darauf, unter dem in schwarzer Schrift Beautiful Palm Beach stand, und goß mir von dem dampfenden Kaffee ein. Dann setzte ich mich im Wohnzimmer auf das Sofa und starrte durch das große Panoramafenster in den Garten hinaus. Wieder so ein zauberhafter Tag, dachte ich, an dem das Blau des Himmels so intensiv leuchtet,
Weitere Kostenlose Bücher