Am Seidenen Faden
hoch, als wollte er sie rasieren. Ein schwaches Geräusch, halb unterdrückter Schrei, halb Seufzen, entfloh Saras Mund. »Habt ihr das gehört?« fragte Friendly. »Diesen niedlichen kleinen Seufzer? Das scheint in der Familie zu liegen. Ihre Schwester hat genauso geseufzt«, sagte er zu mir. »Unmittelbar bevor ich ihr die Nase eingeschlagen habe.«
»Mein Gott!«
»Na bitte, da ist er schon wieder.«
»Sie haben meine Schwester getötet?« Tränen machten mich
einen Moment lang blind. Ich versuchte, sie wegzuwischen, aber der Raum um mich herum blieb verschwommen, ein Gegenstand verfloß mit dem anderen, wie Tinte auf einem nassen Stück Papier. Colin Friendlys welliges dunkles Haar verschwand in Saras dunklen Haarwurzeln, seine weiße Haut verschmolz mit ihrem weißen T-Shirt, das Messer vibrierte an ihrem Hals, so daß es aussah, als wären da viele Messer und viele Hälse. Das Zimmer geriet aus der Balance. Es drohte zu kippen, zusammenzubrechen, zu verschwinden.
»Hab ich gesagt, daß ich sie getötet hab?« fragte er lässig. »Ich hab nur gesagt, daß ich ihr die Nase gebrochen hab.«
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Es ist schon komisch, wie manche Leute reagieren, wenn sie wissen, daß sie gleich sterben«, sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. »Die einen kriegen eine Mordsangst und fangen an zu schreien und zu heulen und führen sich auf wie die Verrückten. Dann gibt’s andere, die wollen diskutieren. Auf die geht man eine Weile ein und läßt sie glauben, daß sie einen vielleicht umstimmen können, und dann werden sie ein bißchen ruhiger und machen sich Hoffnungen, und dann kommt der irre Moment, wenn sie merken, daß man sie trotzdem umbringen wird. Da sieht man dann, wie die Hoffnung in ihren Augen untergeht wie ein Schiff im Ozean. Da fangen sie dann im allgemeinen zu betteln an.«
Er lachte das Lachen eines Wahnsinnigen; es durchschnitt die Luft wie eine Machete. »Ich glaube, das gefällt mir am allerbesten.« Er wiegte sich leise hin und her, mit träumerischem Blick, in Erinnerungen schwelgend. »Sie nennen dir alle möglichen Gründe, warum du sie nicht töten sollst – sie wollen leben, sie sind jung, sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich, sie haben Kinder oder eine verwitwete Mutter, um die sie sich kümmern müssen. Lauter solchen Scheiß. Janet McMillan zum Beispiel, die hat wegen ihrer zwei kleinen Kinder gejammert, und Ihre Freundin, Amy Lokash, die hat sich um ihre Mutter Sorgen gemacht. Hey, wollen Sie immer noch wissen, wo sie ist?« fragte er unvermittelt
und fuhr fort, ehe ich etwas erwidern konnte. »Erinnern Sie sich, ich hab Sie an den Osborne-See geschickt.«
Ich nickte.
»Da ist sie auch. Aber nicht im Wasser. Ich hab sie neben diesem Häuschen eingebuddelt. Im Sommer finden dort immer Ferienlager für Kinder statt. Sie haben es bestimmt gesehen.«
»Ja, ich hab es gesehen.« Ich hatte das kleine, von Bäumen umgebene Holzhäuschen sofort vor Augen.
»Ein, zwei Monate noch, dann tanzen die Kinder auf ihrem Grab.«
Wieder kamen mir die Tränen. Ich weinte um Amy, um ihre Mutter, um meine Töchter, mich selbst, Jo Lynn. »Haben Sie meine Schwester getötet?« fragte ich.
»Wenn ich’s getan hab, dann hat sie’s verdient. Die war wirklich zu nichts zu gebrauchen. Nicht einen Penny von dem Geld hat sie mitgebracht, das sie mir versprochen hatte. Aber Sie sind bestimmt so nett, mir das Geld zu geben, bevor ich hier abhaue.«
»Haben Sie meine Schwester getötet?« wiederholte ich.
»Ja, hab ich«, sagte er ganz locker. »Und soll ich Ihnen mal was sagen – sie hat nicht gebettelt oder rumdiskutiert oder versucht, es mir auszureden. Nichts dergleichen. Sie hat nur diesen niedlichen kleinen Seufzer von sich gegeben und mich mit ihren großen grünen Augen angeschaut, als hätte sie von Anfang an gewußt, daß das passieren würde. Es hat gar keinen echten Spaß gemacht, sie umzubringen. Aber bei euch wird das bestimmt anders.« Ohne die Umklammerung zu lockern, in der er Sara hielt, griff er in seine Hosentasche und zog den Trauring heraus, den meine Schwester sich gekauft und mit soviel stolzem Trotz getragen hatte. »Für mein Schatzkästlein«, sagte er.
Ich bemühte mich, meine wachsende Panik zu bändigen. Ich mußte überlegen, was ich tun konnte, um meine Töchter vor diesem Ungeheuer zu schützen. Es war mittlerweile klar, daß die Polizei uns nicht zu Hilfe kommen würde. Aber wir waren zu dritt, und er war allein. Und wenn er auch meiner
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