Am Seidenen Faden
wollte man mir zeigen. Die Tote habe schwere Verletzungen im Gesicht, erklärte mir der Polizeibeamte, obwohl ich schon nicht mehr zuhörte, da man mir das alles ja schon einmal erzählt hatte. Erinnerte man sich hier an mich, so wie ich mich an meinen Besuch mit Donna Lokash erinnerte? Als ich mir damals widerstrebend die Fotografie des jungen Mädchens angesehen hatte, das tot auf einem Stahltisch in einem hinteren Raum lag, hätte ich mir nicht träumen lassen, daß eines Tages meine Schwester auf demselben Stahltisch liegen würde. Oder belog ich mich auch hier wieder selbst? Hatte ich es vielleicht von Anfang an gewußt?
Was hatte ich noch von Anfang an gewußt? Das frage ich mich heute. Hatte ich tief im Innern nicht vielleicht doch gewußt, was damals, in unserer Kindheit, zwischen Jo Lynn und meinem Stiefvater vorgegangen war? Hinweise hatte es genug gegeben, all die fehlenden Teile des Puzzles, das meine Schwester gewesen war. Wenn ich heute zurückblicke, erscheint es mir undenkbar, daß ich sie übersehen haben konnte. Immer wieder hatte Jo Lynn Andeutungen gemacht. Ich hätte nur hinhören und sie zusammensetzen müssen. War es möglich, daß ich sie absichtlich ignoriert hatte?
Eine schöne Therapeutin bist du, hatte Sara mich angeschrien, und vielleicht hat sie damit recht. Als Therapeutin hätte ich es wissen müssen. Wäre Jo Lynn eine Klientin gewesen und nicht meine Schwester, so hätte ich die Wahrheit zumindest geargwöhnt. So aber war einfach der Abstand nicht da gewesen.
Letztlich wurde meine Schwester anhand ihrer Fingerabdrücke
identifiziert. Ihre Leiche wurde eingeäschert. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Eine Zeitlang war es, als hätte sie nie existiert, als hätte es dieses exotische Geschöpf namens Jo Lynn nie gegeben. Und vielleicht bin ich damit der Wahrheit näher, als ich ihr je kommen werde. Von dem Zeitpunkt an nämlich, als mein Stiefvater sich zum ersten Mal an ihr verging, hörte die wahre Jo Lynn, die Joanne Linda, als die sie zur Welt gekommen war, auf zu existieren. Sie wurde verdrängt von einer verstörten jungen Frau mit einem Hang zur Theatralik und ohne Selbstachtung, die von Kindheit an gelernt hatte, daß mißbraucht werden geliebt werden heißt.
Tatsache ist, daß Jo Lynn nie bei einem Mann Geborgenheit gefunden hatte. Nicht bei ihrem Vater und nicht bei ihren drei Ehemännern, die alle nur das bestätigten, was sie in der Kindheit gelernt hatte: daß es in Ordnung ist, die zu verletzen, die man liebt; daß gefährliche Männer häufig die attraktivsten sind; daß harte Fäuste überzeugender sind als gute Worte. Colin Friendly war lediglich die Steigerung seiner Vorgänger. Man könnte sagen, daß die Heirat meiner Schwester mit ihm der einzig logische Schritt war.
Aber reicht das als Erklärung dafür aus, daß sie bereit war, sich einem Mann auszuliefern, für den sie nur ein Objekt seiner Mordlust war? War sie, wie die Boulevardblätter behauptet haben, so gierig nach Aufmerksamkeit? Publicity? Liebe?
Ich glaube es nicht. Meiner Ansicht nach ist das eine zu simple Erklärung für ihr Verhalten.
Ich vermute, so seltsam das erscheinen mag, daß Colin Friendly für meine Schwester ein Mann war, von dem sie meinte, sie könne ihn beherrschen. Er saß ja schließlich hinter Gittern, zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, seiner Hinrichtung zu entgehen, würde er den Rest seines Lebens eingesperrt bleiben. Das machte diesen brutalen Serienmörder auf verrückte, aber sehr reale Weise zu einem der harmlosesten Männer, die meine Schwester je gekannt hatte.
Oder vielleicht glaubte sie auch, ihn retten zu können, wenn
sie ihn nur stark genug liebte, fest genug an ihn glaubte und unbeirrbar zu ihm stand, und daß sie, indem sie ihn rettete, auch sich selbst retten könnte.
Hätte irgend etwas sie retten können? Hätte ich es gekonnt?
Ich denke nicht, aber das war immer schon mein Problem – ich denke zuviel. Was fühle ich aber? Ist das nicht die Frage, die ich stets meinen Klienten stelle – was fühlen Sie?
Ja, was fühle ich?
Ich würde am liebsten alles Geschirr aus den Schränken reißen und zertrümmern, zusehen, wie es in tausend Scherben zerspringt. Ich würde mich am liebsten mitten auf die Straße stellen und so laut schreien, wie ich nur kann. Ich würde am liebsten laufen so schnell ich kann und so weit ich kann, bis meine Beine mir den Dienst versagen und mein Körper um Gnade bettelt, und dann
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