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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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als Edward noch zur Schule ging, hatte sein Vater ihr geduldig beigebracht, ihren Sohn unter keinen Umständen zu stören, wenn er sich über seine Bücher beugte.
    In diesem Sommer nach dem Examen galt Edwards Interesse dem revolutionären Messianismus im Mittelalter und dessen fanatischen, verblendeten
    Anführern. Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr las er Norman Cohns Ringen um das Tausendjährige Reich. Angestachelt von Bildern der Apokalypse aus der Offenbarung und dem Buch Daniel und überzeugt davon, der Papst sei der Antichrist, das Ende der Welt also nahe, sowie dem Glauben verfallen, es würden nur jene gerettet werden, die reinen Gewissens seien, fegte der Mob durch die deutschen Lande, zog von Stadt zu Stadt, massakrierte Juden, wo und wann immer er ihrer habhaft werden konnte, aber auch Priester und manchmal sogar die Reichen. Diese Aufstände wurden von den Behörden zwar niedergeschlagen, doch entstand meist nur wenige Jahre später an einem anderen Ort eine neue Sekte. Stumpfsinnig und behütet, wie sein Leben war, erfaßte Edward angesichts dieser wiederkehrenden Epidemien der Unvernunft ein Schauder der Faszination, und zugleich war er froh, in einer Zeit zu leben, in der die Religion nahezu bedeutungslos geworden war. Er überlegte, ob er sich zur Promotion anmelden sollte, falls seine Abschlußnote dafür ausreichte. Dieser mittelalterliche Irrglaube könnte dann sein Thema sein.
    Auf Spaziergängen durch die Buchenwälder träumte er davon, eine Reihe kurzer Biographien über vom Vergessen bedrohte Persönlichkeiten zu verfassen, die am Rand wichtiger geschichtlicher
    Ereignisse gestanden hatten. Als erstes würde er über Sir Robert Carey schreiben, jenen Mann, der in siebzig Stunden von London nach Edinburgh geritten war, um die Nachricht vom Tode Elisabeths der Ersten ihrem Nachfolger, dem schottischen König James dem Sechsten, zu überbringen. Carey war ein interessanter Mann, der dankenswerterweise Memoiren verfaßt hatte. Er kämpfte gegen die spanische Armada, wußte hervorragend mit dem Schwert umzugehen und war Mäzen der Lora Chamberlain’s Men, ehedem Londons erfolgreichste Theatertruppe. Mit seinem beschwerlichen Ritt in Richtung Norden hatte er die Gunst des neuen Königs erringen wollen, doch geriet er statt dessen fast vollständig in Vergessenheit.
    In seinen realistischeren Momenten sagte sich Edward, daß er lieber eine ordentliche Stelle suchen und Geschichte an einem Gymnasium unterrichten sollte; außerdem mußte er irgendwie dafür sorgen, daß er um den Wehrdienst herumkam.
    Wenn er nicht las, wanderte er meist die Lindenallee entlang zum Dorf Northend, wo sein Schulfreund Simon Carter lebte. An diesem besonderen Morgen aber war er die Bücher, den Vogelgesang und den ländlichen Frieden leid, holte das klapprige Jungenrad aus dem Schuppen, stellte den Sattel höher, pumpte die Reifen auf und fuhr ohne be-stimmtes Ziel davon. Er hatte zwei Half Crowns und einen PfUndschein in der Tasche und wollte einfach nur den Ausflug genießen. Mit kaum funktionierenden Bremsen, doch halsbrecherischem Tempo brauste er unter dem grünen Blätterdach den steilen Hügel hinab, am Hof der Balhams vorbei, dem der Straceys, dann ins Tal, und als er am eisernen Gitter von Stonor Park vorüberflog, beschloß er, noch vier Meilen weiter nach Henley zu fahren. Dort angekommen, radelte er schließlich zum Bahnhof, getrieben von der unbestimmten Absicht, Freunde in London zu besuchen, aber der Zug, der am Gleis wartete, fuhr in die entgegengesetzte Richtung.
    Anderthalb Stunden später spazierte er in der Mittagshitze durch Oxford, immer noch leicht gelangweilt und unzufrieden mit sich selbst, weil er bloß sein Geld und seine Zeit vergeudete. Dies hier war einmal das Zentrum seiner Welt gewesen, Quell und Erfüllung beinahe aller jugendlichen Träume und Wünsche. Doch nach London kam ihm Oxford wie eine Spielzeugstadt vor, putzig, provinziell und geprägt von lächerlichem Dünkel. Als ein Porter mit seinem typischen Trilbyhut auf dem Kopf ihn aus dem Schatten eines College-Eingangs heraus ungnädig anfunkelte, wäre er fast umgekehrt, um ihn zur Rede zu stellen. Statt dessen be-schloß er, sich zum Trost ein Bier zu gönnen. Auf dem Weg zum Eagle and Child entdeckte er beim Überqueren der St. Giles Street ein handgeschriebenes Schild mit dem Hinweis auf ein Mittagstreffen der örtlichen Anti-Atom-Gruppe und zögerte. Für derlei Versammlungen, ihre pathetische Rhetorik und nörgelige

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