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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Rechthaberei, hatte er eigentlich nicht viel übrig. Natürlich waren die Bomben schrecklich und sollten verboten werden, aber viel Neues hatte er auf solchen Treffen noch nie erfahren. Trotzdem, er war zahlendes Mitglied, hatte nichts weiter zu tun und fühlte sich irgendwie verpflichtet. Er war es der Welt schuldig, zu ihrer Errettung beizutragen.
    Über einen gefliesten Flur betrat er einen düsteren Saal mit niedrigen, bemalten Deckenbalken, in dem es wie in einer Kirche nach Staub und Holzpolitur roch und das Echo leise streitender Stimmen zu hören war. Die erste Person, die er sah, sobald sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, war Florence, die an der Tür stand und mit einem drahtigen, gelb gesichtigen Kerl redete, der einen Stapel Flugblätter in der Hand hielt. Sie trug ein weißes Baumwollkleid, dessen Rock wie ein Pettycoat ausgestellt war, dazu einen schmalen, blauen, enganliegenden Ledergürtel. Einen Moment lang hielt er sie für eine Krankenschwester -auf abstrakte, durchaus konventionelle Weise fand er Krankenschwestern ziemlich erotisch, weil sie, so malte er es sich gerne aus, über seinen Körper und dessen Bedürfnisse Bescheid wußten. Anders als die Mädchen, die er sonst auf der Straße oder in Geschäften anschaute, wandte Florence den Blick nicht von ihm ab, sondern musterte ihn fragend oder amüsiert, vielleicht auch gelangweilt und auf der Suche nach Abwechslung. Es war ein seltsames Gesicht, schön, gewiß, doch zugleich markant und starkknochig. In dem dämmrigen Saal ließ das eigenartige, durch ein hohes Fenster einfallende Licht ihr Gesicht wie eine geschnitzte Maske wirken, besonnen und ausdrucksstark, aber unergründlich. Er war nicht stehengeblieben, als er den Saal betreten hatte, und ging nun auf sie zu, ohne die geringste Ahnung, was er ihr sagen sollte. Er hatte noch nie Geschick darin bewiesen, ein Gespräch anzufangen. Doch selbst während er auf sie zuging, ließen ihre Augen ihn nicht los, und kaum war er nahe genug, nahm sie ihrem Freund ein Flugblatt ab und sagte: »Möchten Sie? Es erklärt, was passiert, wenn eine Wasserstoffbombe auf Oxford fällt.«
    Ihre Finger strichen sicherlich nicht zufällig über die Innenseite seines Handgelenks, als er ihr das Blatt abnahm. »Ich wüßte nicht, was ich lieber läse«, sagte er.
    Der Kerl an ihrer Seite starrte ihn giftig an und wartete darauf, daß er weiterging, aber Edward blieb, wo er war.
    Florence hielt es ebenfalls nicht mehr zu Hause aus in der großen viktorianischen Villa im neugotischen Stil kaum fünfzehn Minuten Fußweg entfernt, in einer Seitenstraße der Banbury Road. Ihre Mutter, Violet, die trotz der Hitze den ganzen Tag lang Examensarbeiten korrigierte, konnte das ewige Üben ihrer Tochter nicht ertragen - diese ständigen Tonleitern, Doppelgriffe und Arpeggios, das Auswendigspielen. Violet redete von Gefiedel, wenn sie etwa sagte: »Ich bin mit meiner Arbeit noch nicht fertig, Liebling. Könntest du mit dem Gefiedel bitte bis nach dem Tee warten?«
    Es war als liebevoller Scherz gemeint, aber Florence, die in dieser Woche ungewöhnlich gereizt wirkte, sah darin nur einen weiteren Beweis dafür, daß Violet ihre Berufswahl als Musikerin mißbilligte und jeder Art von Musik und damit auch ihrer Tochter gegenüber feindselig eingestellt war. Florence wußte, sie sollte Mitleid mit ihrer Mutter haben. Violet war so unmusikalisch, daß sie keine einzige Melodie wiedererkannte, selbst die Nationalhymne vermochte sie nur durch die jeweiligen Umstände von >Happy Birthday< zu unterscheiden.
    Sie gehörte zu jenen Menschen, die nicht sagen können, welcher von zwei Tönen höher oder tiefer ist. Eine solche Beeinträchtigung, eine solche Behinderung war gewiß ebenso schlimm wie ein Klumpfuß oder eine Hasenscharte, doch nach den Freiheiten, die Florence in Kensington genossen hatte, fand sie jede Minute zu Hause einfach nur bedrückend und konnte kein Mitgefühl für ihre Mutter aufbringen. Selbstverständlich machte es ihr zum Beispiel nichts aus, jeden Morgen ihr Bett zu machen - sie kannte es nicht anders -, doch fand sie es unerträglich, bei jedem Frühstück gefragt zu werden, ob sie es auch nicht vergessen habe.
    Wie so oft, wenn sie länger fort gewesen war, rief ihr Vater widerstreitende Gefühle in ihr wach. Es gab Momente, da fand sie ihn körperlich abstoßend und konnte seinen Anblick kaum ertragen -die schimmernde Glatze, die kleinen weißen Hände, seine ewigen Pläne, mit denen er das

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