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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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können, wenn die Musiker von der Bühne kamen. Bei Kammerkonzerten schlug sie für die Klavierspieler auch die Notenblätter um und stand eines Abends, als Lieder von Haydn, Frank Bridge und Britten aufgeführt wurden, sogar neben Benjamin Britten persönlich. Ein Junge sang mit Sopranstimme, und auch Peter Pears war da, der ihr zehn Schilling zusteckte, bevor er gemeinsam mit dem großen Komponisten das Haus verließ. Gleich nebenan, im Geschoß unter den Klavierverkaufsräumen, entdeckte sie jenen Übungsraum, in dem so namhafte Pianisten wie John Ogdon und Cherkassy die Tonleiter rauf und runter gedonnert waren und wie durchgeknallte Erstsemester bis in den frühen Morgen ihre Arpeggios in die Tasten gehämmert hatten. Wigmore Hall wurde für sie ein zweites Zuhause - jeder dunkle Winkel, jede schäbige Ecke, selbst die kalten Betonstufen, die hinab zu den Toiletten führten, wuchsen ihr ans Herz.
    Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, den Grünen
    Salon aufzuräumen, und eines Nachmittags entdeckte sie im Papierkorb eine vom Amadeus-Quartett fortgeworfene Notiz. In steiler, unleserlicher Schrift stand da etwas über den ersten Satz in Schuberts Streichquartett Nr. 15. Florence war schrecklich aufgeregt, als sie die Worte schließlich entzifferte: »Tempo bei B!«, und der Gedanke ließ sie nicht mehr los, eine wichtige Nachricht erhalten zu haben, einen entscheidenden Hinweis. Zwei Wochen später, kurz nach Beginn ihres letzten Studienjahres, bat sie drei der besten Studenten der Musikhochschule, mit ihr zusammen ein eigenes Quartett zu gründen.
    Nur das Cello wurde von einem Mann gespielt, doch hegte Florence keinerlei romantische Gefühle für Charles Rodway. Für die Männer am College, meist fanatische Musiker mit leidenschaftlichem Ehrgeiz, die sich ausschließlich für ihr Instrument und ihr Repertoire interessierten, hatte sie noch nie viel übrig gehabt. Wenn eines der Mädchen aus ihrer Gruppe anfing, fest mit einem Studenten zu gehen, verschwand sie spurlos - genau wie Edwards Fußballerfreunde. Es war, als trete die junge Frau in ein Kloster ein. Da es unmöglich schien, mit einem Jungen auszugehen und gleichzeitig den Freundinnen treu zu bleiben, entschied sich Florence für die Wohnheimclique. Sie mochte das neckische Ge-plänkel, den vertrauten, freundschaftlichen Umgang und die Art, wie die Mädchen ihre Geburtstage groß feierten und jeden aufmerksam mit Tee, Decken und Obst versorgten, der die Grippe bekam. Während ihrer Studienjahre fühlte sie sich frei und unbeschwert.
    Die Londoner Stadtpläne von Edward und Florence überlappten sich nur an wenigen Stellen. Florence wußte kaum etwas über die Pubs in Fitzro-via und Soho, und obwohl sie es immer vorgehabt hatte, war sie nie im Lesesaal des Britischen Museums gewesen. Edward hatte dagegen noch nie von der Wigmore Hall gehört, kannte keine einzige Teestube in ihrer Wohngegend, hatte noch nie ein Picknick im Hydepark gemacht und war auch noch nie auf dem Serpentine-See gerudert. Sie fanden es deshalb schrecklich aufregend, als sie entdeckten, daß sie 1959 beide auf dem Trafalgar Square gewesen waren, zusammen mit zwanzigtausend weiteren Menschen und fest entschlossen, die Atombombe zu verhindern.
    Sie lernten sich erst nach dem Examen kennen, als sie zu ihren Familien heimkehrten, zurück in die lähmende Stille der Kindheit, um in der Hitze zwei ereignislose Wochen lang auf die Prüfungsergebnisse zu warten. Später faszinierte es sie beide, daß sie sich um ein Haar nicht begegnet wären. Für Edward hätte dieser besondere Tag wie alle anderen verlaufen können - er hätte sich wie üblich ans äußerste Ende des schmalen Gartens zurückgezogen, um auf der bemoosten Bank im Schatten der großen Ulme zu sitzen, zu lesen und seiner Mutter aus dem Weg zu gehen. Kaum fünfzig Meter entfernt hätte er ihr Gesicht blaß und verschwommen wie eines ihrer Aquarelle hinter dem Küchen- oder Wohnzimmerfenster gesehen, wie sie ihn oft zwanzig Minuten lang reglos beobachtete. Er versuchte, sie zu ignorieren, doch war ihr Blick, als legte sie ihm eine Hand auf den Rücken oder die Schulter. Danach hörte er oben das Klavier, wenn sie etwas aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena klimperte, damals das einzige klassische Musikstück, das er kannte. Eine halbe Stunde später war sie dann wieder am Fenster und schaute erneut zu ihm herüber. Wenn sie ihn mit einem Buch in der Hand sah, kam sie nie nach draußen, um mit ihm zu reden. Schon vor Jahren,

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