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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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aber die bekümmerte Miene, die Violet aufsetzte, während sie ihre Tochter nur ausreden ließ, um gleich danach die eigene Ansicht zum besten zu geben. Die Sowjetunion, so ihre Mutter, sei eine zynische Diktatur, ein grausamer, herzloser Staat, der für Völkermord in einem größeren Maße als selbst die Nazis verantwortlich war und ein riesiges, noch kaum bekanntes Netz politischer Gefangenenlager errichtet hatte. Sie redete von Schauprozessen, von Zensur und fehlendem Gesetz. Die Sowjetunion hatte die Würde des Menschen und seine Grundrechte mit Füßen getreten, dieser Staat war eine tyrannische Besatzungsmacht in den Nachbarländern - Ungarn und Tschechen zählten zu Violets akademischen Freunden - und strebte nach einer Expansion, der fraglos Einhalt geboten werden müsse, so wie man einst auch Hitler aufgehalten habe. Und wenn wir uns der UdSSR nicht widersetzen konnten, weil es uns an den nötigen Panzern und Soldaten fehlte, um die norddeutsche Tiefebene zu verteidigen, dann müßten wir eben zur Abschreckung greifen. Einige Monate später sollte sie auch noch triumphierend auf den Bau der Berliner Mauer verweisen - der kommunistische Block sei jetzt nur noch ein einziges großes Gefängnis.
    Florence blieb zuinnerst davon überzeugt, daß es sich bei der Sowjetunion trotz all ihrer Fehler - die gewiß eher Ungeschick, Unfähigkeit oder einem Abwehrreflex als böser Absicht geschuldet waren -im Grunde doch um eine wohlmeinende Weltmacht handelte, die sich schon immer für die Befreiung der Unterdrückten eingesetzt und den Faschismus sowie die verheerenden Folgen des unersättlichen Kapitalismus bekämpft hatte. Den Vergleich mit NaziDeutschland fand sie widerlich. Es enttäuschte sie, daß sich ihre Mutter offensichtlich von proamerikanischer Propaganda beeinflussen ließ. Das sagte sie auch.
    Ihr Vater dagegen hatte Ansichten, wie sie von einem Geschäftsmann nicht anders zu erwarten waren. Nach einer halben Flasche Wein konnte die Wahl seiner Worte durchaus ein wenig schärfer ausfallen: Harold Macmillan war ein Trottel, weil er das Empire kampflos preisgab; er war ein blöder Trottel, weil er den Gewerkschaften keine Lohnzurückhaltung auferlegte, und ein verdammt blöder Trottel, weil er mit der Mütze in der Hand zu den Europäern lief und darum bettelte, in ihren unseligen Klub aufgenommen zu werden. Geoffrey zu widersprechen fiel Florence deutlich schwerer.
    Sie wurde ihm gegenüber nie das Gefühl einer peinlichen Verpflichtung los. Zu den Privilegien ihrer Kindheit hatte es gehört, daß er jene lebhafte Aufmerksamkeit auf sie richtete, die eigentlich eher einem Bruder, einem Sohn zukam. Letzten Sommer hatte ihr Vater sie nach der Arbeit regelmäßig in seinem Humber mitgenommen, damit sie sich gleich nach dem einundzwanzigsten Geburtstag für die Führerscheinprüfung anmelden konnte. Sie war durchgefallen. Geigenstunden seit dem fünften Lebensjahr mit Begabtenkursen im Sommer, Skiunterricht und Tennisstunden, nur gegen die Anmeldung zum Flugschein hatte sie sich trotzig gewehrt. Und dann die Reisen, nur sie beide: Wandern in den Alpen, in der Sierra Nevada und in den Pyrenäen, und als besondere Überraschungen kurze Geschäftsreisen in die europäischen Hauptstädte, wo sie mit Geoffrey in den besten Hotels übernachtete.
    Als Florence mittags nach einem wortlosen Streit mit ihrer Mutter wegen einer unwichtigen Kleinigkeit im Haushalt - Violet gefiel nicht, wie ihre Tochter mit der Waschmaschine umging - aus dem Haus lief, sagte sie, sie wolle einen Brief zur Post bringen und werde zum Mittagessen nicht zurück sein. Mit der unbestimmten Absicht, zur Markthalle zu spazieren und dabei vielleicht der einen oder anderen Schulfreundin zu begegnen, ging sie auf der Banbury Road in Richtung Stadtzentrum. Vielleicht würde sie sich auch bloß ein Brötchen kaufen und es auf dem Rasen vor dem Christ Church College essen, unter einem Baum am Flußufer. Als sie das Schild bemerkte, das Edward eine Viertelstunde später sehen sollte, folgte sie geistesabwesend dem Pfeil. In Gedanken war sie bei ihrer Mutter. Nach den Jahren mit den fürsorglichen Freundinnen im Wohnheim fiel ihr seit der Heimkehr erst so richtig auf, wie unkörperlich ihre Mutter war. Nie wurde Florence von ihr umarmt oder geküßt, das war auch früher nicht anders gewesen. Ihre Mutter hatte sie kaum je angefaßt. Und das war vielleicht auch ganz gut so. Violet war hager und knochig, und Florence sehnte sich nicht unbedingt nach ihrer

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