Am Strand
Sie würden glauben, daß irgendwas mit ihr nicht stimmte, und sie hätten recht.
Sie wußte auch, wie erbärmlich sie sich benahm. Um einen gräßlichen Moment zu überstehen, um ihm zu entfliehen, erhöhte sie den Einsatz, setzte auf den nächsten und machte dazu den keineswegs hilfreichen Eindruck, sich danach sogar zu sehnen. Der letzte Akt konnte nicht endlos hinausgezögert werden. Immer näher kam der entscheidende Augenblick, und sie stürzte sich ihm auch noch kopflos entgegen. Sie war in einem Spiel gefangen, dessen Regeln sie nicht durchbrechen konnte. Es gab kein Entrinnen, und deshalb zerrte sie Edward zur offenstehenden Tür, zum Schlafzimmer und zu dem schmalen Himmelbett mit dem glatten weißen Überwurf. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, sobald sie dort ankamen, aber wenigstens war das schreckliche Geräusch verklungen, und in den wenigen Sekunden, die ihr noch blieben, gehörten Mund und Zunge wieder ihr allein, und sie konnte atmen, konnte versuchen, die Fassung wiederzugewinnen.
Zwei
Wie hatten sie sich kennengelernt, und warum war dieses Liebespaar einer modernen Zeit so schüchtern, so unerfahren? Sie hielten sich für viel zu gebildet, um an ein Schicksal zu glauben, und doch konnten sie es nicht fassen, daß eine derart folgenschwere Begegnung zufällig geschehen, von aberhundert kleineren Ereignissen und Entscheidungen abhängig gewesen sein sollte. Was für ein grausamer Gedanke, sie hätten sich womöglich nie getroffen. Im ersten Ansturm ihrer Gefühle malten sie sich oft aus, wie sich ihre Wege bereits in frühester Jugend gekreuzt haben mochten, wenn Edward aus seinem abgeschiedenen, verwahrlosten Elternhaus in den Chiltern Hills gelegentlich nach Oxford gefahren war. Was für eine aufregende Vorstellung, sie wären sich auf einem der bekannten Stadtfeste begegnet, etwa dem Jahrmarkt auf St. Giles Anfang September oder beim Tanz in den Mai - ein lächerlicher, völlig überbewerteter Brauch, da waren sich beide einig -, beim Mieten eines Stechkahns am Cherwell Boat House - auch wenn Edward nur ein einziges Mal dort gewesen war - oder später dann beim heimlichen Biertrinken im Turl.
Edward meinte sogar, er sei einmal in einem Bus mit anderen dreizehnjährigen Jungen zur Oxford HighSchool gebracht und bei einem Quiz zum Thema Allgemeinwissen haushoch geschlagen worden -von Mädchen, die schrecklich ernst und so belesen wie Erwachsene gewesen waren. Vielleicht hatte es sich dabei aber auch um eine andere Schule gehandelt. Florence konnte sich nicht daran erinnern, in der Gegenmannschaft gewesen zu sein, gab aber zu, gern bei solchen Wettbewerben mitgemacht zu haben. Wenn sie ihre geistigen und geographischen Karten von Oxford verglichen, stellten sie erstaunlich große Ähnlichkeiten fest.
Dann waren Kindheit und Schulzeit vorbei, und 1958 entschieden sie sich beide für London - er für das University College, sie für das Royal College of Music -, und da kreuzten sich ihre Wege in der großen Stadt natürlich nicht. Edward wohnte bei einer verwitweten Tante in Camden Town und fuhr jeden Morgen mit dem Rad nach Bloomsbury. Er arbeitete den ganzen Tag, spielte am Wochenende Fußball und trank abends mit Freunden Bier. Bis es ihm peinlich wurde, hatte er auch gegen eine gelegentliche Schlägerei vor den Pubs nichts einzuwenden gehabt. Musik war für ihn die einzig ernstzunehmende, nicht körperliche Freizeitbeschäftigung, jener pulsierende, elektrische Blues, der zum wahren Vorläufer und eigentlichen Motor des englischen Rock ‘n’ Roll wurde - sein Lebtag lang war Edward davon überzeugt, daß diese Musik dem schmalzigen Drei-Minuten-Geträller aus Liverpool, das in wenigen Jahren die Welt erobern sollte, weit überlegen war. Oft kam er abends aus der Bibliothek und ging über die Oxford Street zum Hundred Club, um John Mayalls Powerhouse Four zu hören, Alexis Korner oder Brian Knight. Kulturell beeindruckte ihn während seiner drei Studienjahre nichts so sehr wie die Abende im Klub, und noch Jahre später fand er, sie hätten nicht nur seinen Musikgeschmack, sondern sein ganzes Leben geprägt. Die wenigen jungen Frauen, die er kannte - damals studierten noch nicht so viele -, kamen aus den Vorstädten zum Unterricht und verschwanden am späten Nachmittag wieder, offenbar einer strengen elterlichen Anweisung gehorchend, laut der sie um sechs Uhr wieder daheim zu sein hatten. Ohne ein Wort vermittelten diese Frauen den unmißverständlichen Eindruck, daß sie sich für
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