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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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das sie keine Lösung kannte, doch vielleicht half ihr das Handbuch weiter. Dessen grellroter Einband zeigte ein lächelndes, Händchen haltendes Strichmännchenpaar mit kugelrunden Augen, eine weiße Kreidezeichnung, so naiv gemalt wie von einem unschuldigen Kind.
    Sie hatten die Melone in kaum zwei Minuten verzehrt, während die Burschen, statt auf dem Korridor zu warten, sich im Hintergrund hielten und an ihren Fliegen, an den engen Kragen oder den Manschetten zupften. Ihre Mienen blieben ausdruckslos und änderten sich auch nicht, als Edward seiner Braut mit galanter Geste die kandierte Kirsche darbot. Verspielt saugte sie ihm die Frucht von den Fingern, biß zu und hielt dabei seinen Blick gefangen, ließ ihn sogar ihre Zunge sehen, obwohl sie Angst davor hatte, wie es weitergehen sollte, wenn sie auf diese Weise mit ihm flirtete. Sie durfte nichts anfangen, was sie nicht auch zu Ende bringen konnte, doch wollte sie, so gut sie konnte, ihr Bestes geben: Sie fühlte sich dann nicht ganz so nutzlos. Wenn es doch genügen würde, eine klebrige Kirsche zu essen.
    Um zu beweisen, daß ihn die Gegenwart der Kellner nicht störte - obwohl er sich wünschte, sie würden endlich verschwinden - lächelte Edward, während er sich mit seinem Glas Wein zurücklehnte und ihnen über die Schulter zurief: »Gibt’s noch mehr von den Dingern?«
    »Keine mehr, Sir. Bedaure.«
    Die Hand aber, mit der Edward das Weinglas hielt, zitterte, während er sein plötzliches Hochgefühl, seine überschäumende Freude zu bändigen versuchte. In seinen Augen glühte Florence nahezu, sie war einfach wunderbar - schön, sinnlich, begabt und über die Maßen attraktiv.
    Der Junge, der ihm geantwortet hatte, stürzte vor und räumte den Tisch ab. Sein Kollege ging auf den Korridor, um den zweiten Gang, das Rindfleisch, auf ihren Tellern anzurichten. Den Servierwagen in die Hochzeitssuite zu fahren und das Essen dort mit dem Silberbesteck vorzulegen war unmöglich wegen der zwei Stufen zwischen Zim-mer und Flur, die sich einer Fehlplanung aus jenen Tagen verdankten, als das elisabethanische Landhaus Mitte des achtzehnten Jahrhunderts dem georgianischen Zeitgeschmack angepaßt worden war.
    Das Paar hörte Löffel über Platten schaben und die beiden Jungen an der offenen Tür murmeln, war aber für einen kurzen Moment allein. Edward legte seine Hand auf die von Florence und flüsterte ihr zum hundertsten Mal an diesem Tag zu: »Ich liebe dich«, woraufhin sie ihm augenblicklich von ganzem Herzen und aus tiefer Überzeugung dasselbe versicherte.
    Edward hatte sein Geschichtsstudium am University College in London mit »sehr gut« abgeschlossen und in drei kurzen Jahren Kriege studiert, Rebellionen, Seuchen und Hungersnöte, den Aufstieg und Fall von Weltmächten, Revolutionen, die ihre Kinder fraßen, das Elend der Landarbeiter, die Verarmung der Fabrikarbeiter und die Grausamkeit der herrschenden Klasse - ein farbenfrohes Historienspiel über Unterdrückung, Leid und enttäuschte Hoffnungen. Er wußte, wie beengt und kärglich das Leben Generation um Generation verlaufen konnte. Von seiner höheren Warte aus gesehen, schienen friedliche Zeiten des Wohlstandes in England eher selten gewesen zu sein, und vor diesem Hintergrund bedeutete ihrer beider Glück etwas Außergewöhnliches, wenn nicht gar Einzigartiges. Im letzten Studienjahr konzentrierte er sich auf die Theorie der großen Persönlichkeiten in der Geschichte - war es wirklich eine überholte Vorstellung, daß tatkräftige Individuen das Schicksal ihrer Nation prägen konnten? Der Dozent hegte daran keinen Zweifel: Seiner Ansicht nach trieb die Geschichte, nüchtern betrachtet, von unwiderstehlichen Kräften bestimmt einem unausweichlichen, notwendigen Ende zu und würde daher gewiß schon bald zu den Naturwissenschaften gerechnet werden können. Die Lebensläufe, die Edward im besonderen studierte - Cäsar, Karl der Große, Friedrich der Große, Katharina die Große, Nelson und Napoleon (Stalin hatte er auf Drängen seines Dozenten fallenlassen) -, schienen ihm jedoch eher das Gegenteil nahezulegen. Ein rücksichtsloser Charakter, blanker Opportunismus und ein Quentchen Glück konnten das Schicksal von Millionen ändern, eine eigensinnige Schlußfolgerung, die Edward eine »zwei minus« eintrug und beinahe seinen Einser-Abschluß gefährdet hätte.
    Fast nebenbei entdeckte er, daß selbst legendärer Erfolg nur selten Glück, wohl aber wachsende Ruhelosigkeit und quälenden Ehrgeiz mit

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