Am Tor Zur Hoelle
betrachtete ich die Häuser in Hamburg und sah sie, wie sie am Ende des Zweiten Weltkrieges ausgesehen haben mussten, wie die zerstörten Häuser in den Städten und ländlichen Gebieten des Balkan, wie die Stadt Mostar. Durch diese Erfahrung berührte ich das, was ich mir als Erfahrung des Zweiten Weltkrieges in Europa, in Deutschland vorzustellen vermag. Ich vernahm die herankommenden Flugzeuge, die fallenden Bomben, die getroffenen Häuser, die weinenden Kinder, die sterbenden Menschen, die heulenden Alarmsirenen. Ich konnte es riechen, ich konnte es fühlen, ich konnte es schmecken, und ich begann zu weinen. Mein ganzes Leben lang waren mir die Deutschen sowohl bewusst als auch unbewusst als Feind erschienen, und als Feind konnte ich die Deutschen nicht als Menschen sehen und annehmen. Ich konnte nicht anerkennen, dass auch sie litten, und zwar immens litten. Doch in jenem Augenblick konnte ich das Leiden am Krieg in Deutschland berühren. Und in jenem Augenblick fühlte ich mich dem Menschsein der Deutschen verbunden und nahm mein eigenes Menschsein stärker wahr. In jenem Augenblick war ich nicht länger von ihnen getrennt; sie waren nicht länger mein Feind.
Ob du Sieger oder Verlierer bist â deine Narben sind dieselben. Ich bin nach Vietnam zurückgekehrt und habe mir das Leid der Vietkong-Soldaten angehört; ich habe mir das Leid der Soldaten angehört, die für Nordvietnam gekämpft haben. Ich habe dort im Krankenhaus mit ihnen gesprochen.
Genau wie die amerikanischen Kriegsveteranen sind viele von ihnen nicht in der Lage, kontinuierlich einem Broterwerb nachzugehen, sie können keine Beziehungen aufrechterhalten, sie sind in hoher Zahl drogenabhängig, und die Selbstmordrate ist ebenfalls hoch. In Thailand habe ich mit einem älteren Mönch gesprochen. Während des Vietnamkrieges hat er in Laos gekämpft. Wir haben über seine Erfahrungen gesprochen und über die Erfahrungen seiner Freunde, die ebenfalls Soldaten waren. Wir haben über den Krieg gesprochen und über unsere Erfahrungen während der Gefechte, und die Geschichte, die er mir erzählt hat, unterschied sich nicht sehr von meiner eigenen. Krieg und Gewalt zeitigen überall ähnliche Auswirkungen auf die Menschen, sei es in Vietnam, in Thailand, auf dem Balkan, im Irak, im Kongo oder in den Vereinigten Staaten.
Veteranen des zweiten Golfkrieges wurden bei ihrer Rückkehr mit Paraden gefeiert. Doch als sich herausstellte, dass viele von ihnen an einer Krankheit litten, die unter dem Namen Golfkriegssyndrom bekannt wurde, wandte ihr Land ihnen den Rücken zu. Die Regierung sagte: »Tja, wir wissen auch nicht ⦠eigentlich ist alles in Ordnung.« Wieder werden das Problem und die kollektive Verantwortung für die Folgen des Krieges gesellschaftlich geleugnet.
Wenn wir nicht direkt betroffen sind, führt unsere emotionale, unsere psychische und spirituelle Distanzierung dazu, dass wir glauben, der Krieg habe mit uns nichts zu tun. Wir sind anders, wir sind davon getrennt. Jener Krieg ist nicht unserer, er hat mit uns nichts zu tun. Die Leugnung eines Problems dient oftmals dazu, uns unserer Verantwortung für dieses Problem zu entledigen. Dies stellt aber einen Bruch unserer wechselseitigen Verbundenheit dar. Die Realität der wechselseitigen Verbundenheit bedeutet, dass diejenigen, die nicht gekämpft haben, für den Krieg ebenso verantwortlich sind wie jeder Angehörige der Kampftruppen. Solange wir diese Realität nicht berühren, wird der Kreislauf des Leidens fortgesetzt werden.
Was ich in Vietnam erlebt habe, ist kaum einzigartig. Andere Menschen aus vielen anderen Kriegen und sogar Menschen, die nie in einem Krieg gekämpft haben, aber Veteranen aus gewalttätigen Familien sind, Veteranen aus gewalttätigen Kulturen wie der unseren, können sich mit dem, wovon ich spreche, identifizieren. Auch wenn die Einzelheiten, die jeweiligen Ereignisse in ihrem Leben völlig anders aussehen, gibt es doch etwas, das auf Widerhall in ihnen stöÃt. Und dies eröffnet ihnen die Möglichkeit, anzufangen zu erzählen.
Wir sind in einer sozialen Realität aufgewachsen, die Dr. Jonathan Shay als »themis« bezeichnet: als Ermutigung, nicht zu sprechen. »Schweig still!« Wie oft bin ich Menschen begegnet, die gesagt haben: »WeiÃt du, ich möchte einfach nur fühlen, ich möchte nicht sprechen.« Doch wenn wir nicht
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