Am Tor Zur Hoelle
seiner Erfahrung zu erzählen.
Ich verlieà ihn irgendwann, kehrte aber am nächsten Tag zu ihm zurück. Als ich den Raum betrat, in dem sein Bett stand, und unsere Augen sich begegneten, brach er in ein freudiges Lächeln aus. Er war sehr erstaunt, dass ich ihn erneut besuchte. Ich sah, dass ihm Tränen in den Augen standen. Doch sobald er merkte, dass er seine Gefühle zeigte, erstarrte er. Was man ihm beigebracht hatte, war genau das, was man mir beigebracht hatte: Sei unter keinen Umständen emotional anwesend! Zeige niemals deine Gefühle!
Bei jenem zweiten Besuch sprachen wir über seine Verletzungen. Er war in den linken Ellbogen geschossen worden, und ich fragte ihn, wie das passiert sei. Als Gefangener auf der Ostseite hatte man ihn gezwungen, Schützengräben auszuheben, und dabei war er von der Westseite aus angeschossen worden, von einem Heckenschützen aus seinem eigenen Lager. Als die Ãrzte eintrafen, hieà es zunächst, sie müssten den Arm am Ellbogen amputieren. Ich fragte ihn, wie er in dieses Hospital auf der Westseite gelangt war. Es stellte sich heraus, dass die Ãrzte von der Ostseite seinen Arm hatten retten können, dann aber feststellten, dass sie ihn nicht angemessen weiterversorgen konnten, weshalb sie ihn auf die Westseite hinüberschaffen lieÃen, wo ihn eine bessere medizinische Versorgung erwartete. Die Ãrzte von der Ostseite, seine Feinde, die Ungeheuer und Teufel von der Gegenseite, hatten seinen Arm und letztlich sein Leben gerettet.
Wir sprachen noch weiter über den Krieg auf dem Balkan. Wann immer er anfing, von den Ungeheuern und Teufeln der Gegenseite zu sprechen, berührte ich seinen Arm und fragte ihn: »Was sagst du zu diesem Arm?« Und nach einem etwa einstündigen Gespräch meinte er: »Ja, vielleicht sind es nicht allesamt Ungeheuer. SchlieÃlich haben sie mich gerettet, mich und meinen Arm.«
Am dritten Tag begann er mit mir über die Natur des Kämpfens und des Krieges zu sprechen. Ich fragte ihn: »Wie erklärst du dir diesen Krieg?« Wohin ich auch komme, sagen mir alle Menschen, mit denen ich rede, dass sie den Krieg nicht wollen, und der Soldat antwortete mir: »Das ist nicht unser Krieg â es ist der Krieg unserer GroÃväter. Sie sollten zu den Waffen greifen und kämpfen. Das ist nicht unser Krieg â es ist der Krieg der Politiker â sie sollten an vorderster Front stehen.« Wiederum unterschied sich seine Erfahrung nicht von meiner: Ich ging drei Jahre, bevor ich wählen durfte, nach Vietnam (das Wahlalter lag damals bei einundzwanzig). Ich hatte kein Mitspracherecht, was die Politiker anbelangte, die den Krieg beschlossen und mich in den Kampf schickten.
Während unserer dritten Begegnung fragte mich der Soldat, wie ich von den Amerikanern nach meiner Heimkehr behandelt worden sei. Ich antwortete: »Sie haben mich zurückgewiesen. Sie wollten mich nicht um sich haben, weil ich sie an ihre Verantwortung für den Krieg in Vietnam erinnerte.« Er sagte: »Das ist hier nicht anders. Wenn du an der Front bist, lieben dich alle; sie geben dir ein Dach über dem Kopf, Essen, Geld ⦠aber wenn du nicht mehr in der Lage bist, zu kämpfen, wollen sie dich nicht mehr.«
Ich fragte ihn: »Warum kämpfst du?« Er antwortete: »Wenn ich nicht kämpfe, werden die Ungeheuer auf der anderen Seite uns mit Sicherheit töten. Sie werden uns überwältigen, sie werden uns alle töten.« Und dann fragte ich ihn: »Warum haben diese Ãrzte deinen Arm gerettet?« Er sah mich nur an, und ich wusste, dass wir gemeinsam einige der gewaltigsten Lügen gejätet hatten, die den Samen des Krieges immer wieder aussäen.
Ob du Sieger oder Verlierer bist â deine Narben sind dieselben
Als ich im Dezember den Balkan verlieÃ, reiste ich nach Hamburg, um einen Freund zu besuchen. Der Krieg auf dem Balkan war noch ganz frisch in mir, und ich war wieder angespannt wie zum Gefecht. Ãberwachsam, unruhig, misstrauisch, unfähig, mich zu konzentrieren, von verstörenden Gedanken bombardiert. Es war um die Weihnachtszeit herum, als ich in Hamburg war, und schon vor dem Silvesterfeuerwerk gingen vereinzelt Feuerwerkskörper los, und jedes Mal wenn das geschah, hörte ich die Kugeln der Heckenschützen pfeifen, den Lärm des Krieges. Eines Nachts, als ich unterwegs war und mir meine Rastlosigkeit aus dem Leib laufen wollte,
Weitere Kostenlose Bücher