Am Tor Zur Hoelle
den Kommunisten, den Gewerkschaftern, den Homosexuellen, den politischen Dissidenten, allen, die von den Nazis als Bedrohung aufgefasst wurden.
Eine weitere wichtige Erfahrung war der Anblick einer Mauer zwischen zwei Gebäuden im Lager Auschwitz 1. Sie wird die »Exekutionsmauer« genannt, zu der Juden und andere Gefangene geschleppt und erschossen wurden. Ich ging zu dieser Mauer hin, betrachtete sie einen Moment und drehte mich dann um und sah mich selbst als eines der Exekutionsopfer. Dann ging ich in die andere Richtung, drehte mich um, blickte zu der Mauer hinüber und sah mich selbst als einen der Exekutierer. Weil ich in Wirklichkeit beides bin. Im Krieg gibt es keine Trennung zwischen beidem. Auch wenn wir unbedingt einen Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen machen wollen, so existiert dieser Unterschied letztlich nicht. Es ist wahr, dass die Nazis und die Juden verschieden waren, doch ich muss auch erkennen, inwiefern sie nicht verschieden sind, wie in jedem von uns das Potenzial steckt, beides zu sein.
Eines Tages ging ich an dem Fluss in Auschwitz entlang, lieà mich irgendwo nieder und fragte mich, was es wohl bedeutet haben musste, als Polin oder Pole während des Krieges in dieser Stadt gelebt zu haben, im Bewusstsein dessen, was in dem Lager vor sich ging â jeden Morgen zu frühstücken, zur Arbeit zu gehen, Mittag zu essen, nach Hause zu kommen und zu Abend zu essen â und die Gegebenheiten des Lagergeschehens als Normalität zu erleben. Was für Folgen hatte dies auf die Menschen, die vor Ort lebten? Es muss schrecklich gewesen sein, in einem derartigen Zustand der Verleugnung und der Fühllosigkeit zu leben. Für mich ist es immer noch furchtbar, da diese Art emotionaler Dumpfheit der Ausbeutung, dem Missbrauch und der Gewalt gegenüber sich in unserer Gesellschaft bis heute fortsetzt. Es ist mir unmöglich, die Augen vor diesem Leiden zu verschlieÃen, sei es in Ruanda oder Bosnien oder an einem Ort der industrialisierten Welt.
Bei einer anderen Gelegenheit während unseres Lageraufenthalts suchten wir den Ort auf, an dem der Lagerkommandant am Ende des Krieges gehängt worden war. An dem Abend stellte ich vor einer Gruppe, in denen die meisten Juden und Jüdinnen waren, die Frage: »Worin besteht der Unterschied, ob wir einen Juden oder den Lagerkommandanten hängen?« Es gibt keinen Unterschied. In beiden Fällen trennen wir uns von dem anderen, damit wir ihm das Leben nehmen können. Wenn wir eine Welt schaffen wollen, in der Auschwitz nicht möglich ist, müssen wir uns anders verhalten als diejenigen, die es geschaffen haben. Das wurde mir in jenem Augenblick klar. Das ist für mich das Herzstück eines engagierten Buddhismus: nach Wegen zu suchen, die Dinge anders zu tun. Und dieser Weg beginnt mit meiner eigenen Entschlossenheit, mein Leben anders zu leben. Durch die Praxis der Meditation, gestützt von den Lehren Buddhas, bin ich in der Lage, mir mein anerzogenes Verhalten in meinem Leben anzusehen. Je mehr ich mich diesem Prozess verschreibe, je geübter ich darin werde, desto klarer wird das, was ich zu tun habe.
Uns alle eint das Menschsein
Diese Pilgerreise dauerte acht Monate und führte mich durch einundzwanzig Länder. Ich stellte fest, dass die Probleme, vor denen die Menschheit steht, die Art und Weise, wie sich Leiden manifestiert, sich von Land zu Land nicht groà unterscheiden. Wir neigen zu der Ansicht, dass die Menschen diese oder jene Charakteristika aufweisen, weil sie dieser oder jener Nationalität angehören, aber uns alle eint das Menschsein. Selbstsucht, Gier, Unglück, Depression, Entfremdung gibt es in ähnlicher Ausprägung in allen Ländern, und die Menschen versuchen auf sehr ähnliche Art und Weise damit umzugehen â durch Ablenkung. Unsere materialistische Weltsicht hält durch die Anhäufung von Dingen eine der ausgeprägtesten Formen der Ablenkung bereit. Je mehr Dinge ich besitze, desto weniger muss ich mich auf mich selbst konzentrieren. Es ist interessant zu beobachten, wie wir noch an den kleinsten Dingen haften können, die wir besitzen. Eine der wichtigsten Entdeckungen auf jener Pilgerreise war für mich Folgendes: Je wohlhabender die Menschen waren, desto weniger gaben sie. Und je weniger die Menschen besaÃen, desto groÃzügiger gaben sie. Auf unserem Weg durch Polen erlebten wir die Menschen als auÃerordentlich gastfreundlich
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