Am Ufer der Traeume
schon selbst, wie sie die Kräfte verließen. Doch Ellen dachte nicht daran, auf ihren Lohn zu verzichten, und drohte ihr, sie an die Hausmutter zu verraten und sie und Bryan auffliegen zu lassen, falls sie nicht zahlte. Molly fügte sich widerwillig. Die heimlichen Treffen mit Bryan waren ihr Höhepunkt der Woche und sie hätte um nichts auf der Welt darauf verzichtet, auch wenn sie ständig befürchten musste, von der Hausmutter entdeckt zu werden. Sein aufmunterndes Lächeln und seine zärtlichen Liebkosungen waren der einzige Hoffnungsschimmer in dieser dunklen Welt.
Wie durch ein Wunder blieb ihrer Mutter die Krankenstation erspart. Mit viel Gottvertrauen und eisernem Willen schaffte sie es, den Tod von ihrem Lager fernzuhalten. Zu Hilfe kam ihr auch, dass Bryan es schaffte, sich zwei Scheiben Schwarzbrot vom Mund abzusparen, als es ihr besonders schlecht ging. Er besaß ungeahnte Kräfte und erweckte noch lange nicht den Eindruck, vor der Hungersnot in die Knie zu gehen. »Amerika!«, antwortete er, als Molly ihn fragte, woher er diese Kräfte nahm. »Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben zustande bringe, im Frühjahr fahre ich nach Amerika!«
»Amerika«, wiederholte sie leise, bei Bryan und auch bei ihrer Schwester und ihrer Mutter, die inzwischen wussten, dass sie sich heimlich mit Bryan traf. »Amerika« wurde zum Zauberwort, zu einer magischen Formel, die ihnen die Kraft gab, auch diese schweren Wochen zu überstehen. Wenn andere sich aufgaben und zusammenbrachen, standen sie noch immer aufrecht und träumten davon, an Bord eines großen Schiffes ins Land der Freiheit zu fahren. »In Amerika beginnen wir ein neues Leben«, versprach Molly, als hätten sie die Tickets schon in der Tasche und als warteten sie nur noch darauf, von einem Kutscher abgeholt und zum Hafen gefahren zu werden. »In Amerika gibt es keine Könige, die einem vorschreiben, wie man zu leben hat. Dort darf jeder so leben, wie es ihm passt. Noch ein paar Wochen, dann fahren wir, Mutter!«
Doch gerade, als die Schneestürme dieses ungewöhnlich strengen Winters nachließen und es ihrer Mutter wieder etwas besser ging, erlegte ihnen der Herrgott eine weitere Prüfung auf, die ihren Traum von einer besseren Zukunft ernsthaft gefährdete und Molly einen solchen Schlag versetzte, dass sie tagelang mit verheulten Augen herumlief und kaum in der Lage war, ihre kargen Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Die schlechte Nachricht überbrachte Ellen. Ausgerechnet an einem der wenigen sonnigen Tage, die es ihnen gestatteten, die Mittagspause im Hof zu verbringen, tauchte sie neben Molly auf und sagte: »Das war’s dann wohl mit unserem Deal. Dein Alter hat sich aus dem Staub gemacht! Schöner Freund ... lässt sich wegen so was rauswerfen.«
»Aus dem Staub gemacht? Wovon redest du?«, fragte Molly.
»Von deinem Alten ... diesem Bryan. Sie haben ihn davongejagt, gestern Morgen schon. Er soll dem Master eine gelangt haben. Irre, was? Wenn ich dem Master oder der Hausmutter eine Ohrfeige verpasse, kann ich mich auch gleich begraben lassen. Er hätte sich doch denken können, dass sie ihn auf die Straße setzen.«
Molly blickte sie entsetzt an. »Was erzählst du da, Ellen? Soll das vielleicht ein Witz sein? Bryan würde niemals den Master schlagen, so dumm ist er nicht. Er ist noch hier. Ich habe ihn vorgestern Nacht doch selbst gesehen.«
»Vorgestern«, erwiderte Ellen, »da hatte er noch nichts getan. Gestern Morgen sah die Sache anders aus, da muss er wie ein Wilder auf den Master losgegangen sein. Der Master wollte ihn der Polizei ausliefern und einsperren lassen, hab ich mir sagen lassen. Nur weil sich der Pfarrer für ihn einsetzte, blieb ihm der Kerker erspart. Stattdessen haben sie ihn rausgeworfen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ist auch nicht viel besser, wenn du mich fragst, wenn man sich vorstellt, wie’s draußen aussieht. Da hält auch einer wie dein Alter nicht lange durch.«
Molly war wie vor den Kopf geschlagen. »Und warum hat er den Master geschlagen? Bryan ist ein guter Mann. Er würde doch niemals ... er würde niemals grundlos mit den Fäusten auf jemanden losgehen, schon gar nicht auf den Master. Was hat ihm der Master getan? Nun rede doch endlich, Ellen!«
»Was der Master getan hat?« Ellen spuckte verächtlich auf den immer noch hart gefrorenen Boden. »Er hat Fleisch gegessen, das hat er getan. Dein Bryan hat ihn dabei erwischt, wie er sich eine dicke Scheibe von einem halben Schwein abgeschnitten hat.
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