Am Ufer der Traeume
Menschen um die Suppe prügelten.
Molly spürte den Hunger kaum noch. Wenn ihr das unsägliche Leid im Arbeitshaus auf den Magen drückte, brauchte sie nur an Bryan zu denken, an Bryan und daran, dass sie im Frühjahr gemeinsam nach Amerika fahren würden, um wieder neue Hoffnung zu schöpfen. Bryan würde auf sie warten, da war sie ganz sicher. Wenn sie das Arbeitshaus verließen, würde er vor dem Tor stehen und sie in die Arme schließen. Nichts konnte sie mehr trennen, nicht einmal diese große Plage, die ein ganzes Land in den Abgrund stürzte.
Im März besann sich der Herrgott und trieb die kalte Luft in den hohen Norden zurück. Die Sonne stieg hoch über den Croagh Patrick empor und leuchtete verheißungsvoll über dem erstarrten Land. Ihre wärmenden Strahlen weckten die Natur und ließen Beeren und Kräuter wachsen, lockten die Waldtiere aus ihren Verstecken und gaben den Menschen, die den harten Winter überlebt hatten, neue Hoffnung. Sie fanden ihren Weg hinter die dicken Mauern des Arbeitshauses und spiegelten sich in den Augen von Molly, die während der Mittagspause hoffnungsvoll vor ihre Schwester und ihre Mutter trat und sagte: »Endlich ist der Frühling da. Jetzt kann uns nichts mehr passieren.«
Der Master und die Hausmutter freuten sich über jeden Bewohner, der ihr Arbeitshaus verließ. Die Hungersnot hatte so viele Familien in die Armut getrieben, dass die Schlafräume bereits seit Dezember überfüllt waren und sie nicht einmal mehr ledige Mütter und Waisenkinder aufnehmen konnten. Die Bewohner wussten von dem Andrang und fühlten mit diesen Menschen, hatten auch nichts dagegen, dass sie in den Schlafräumen enger zusammenrücken und sich mit kleineren Portionen im Speisesaal begnügen mussten, um so viele Menschen wie möglich vor dem Hungertod zu retten, erreichten damit aber nicht viel. Auch im Arbeitshaus starben die Kranken und Schwachen. Nur wenige blieben vom Schwarzen Fieber und der Cholera verschont, vor allem die Alten und die Kinder starben an diesen Krankheiten.
Das Gefühl, der endgültigen Rettung nahe zu sein, und die ersten warmen Sonnenstrahlen verliehen Molly, Fanny und ihrer Mutter neue Kraft. Abgemagert und ausgezehrt, aber mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen und voller Zuversicht verabschiedeten sie sich vom Master und der Hausmutter.
»Ich würde Ihnen gern sagen, dass Sie eine gemeine Hexe sind und den Tod der armen Bridget auf dem Gewissen haben«, sagte Molly zu Mary McDowell und wandte sich gleich darauf an William Blakely. »Und Sie sollte man eigentlich von Ihrem Posten entheben, weil Sie der armen Bridget nicht gestattet haben, ihr sterbendes Kind zu besuchen. Das war unmenschlich und gemein, auch wenn es in den Vorschriften steht. Aber ich bin heute viel zu glücklich, um mich mit Ihnen herumzustreiten, und wenn ich ehrlich bin, haben wir Ihnen auch einiges zu verdanken. Sie haben uns ein Nachtlager und zu essen gegeben. Dafür bedanke ich mich. Ich hoffe, wir sehen uns niemals wieder, Sir.«
Die Hausmutter wollte aufbrausen, doch der Master hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Niemand ist am Tod dieser armen Frau schuld, mein Kind, und normalerweise würde ich dich jetzt wegen übler Nachrede anzeigen und einsperren lassen. Nur weil ich weiß, wie sehr diese Hungersnot an unseren Nerven zerrt, will ich deine Worte durchgehen lassen.« Er lächelte Fanny an. »Ich nehme mal an, du bedauerst es, mich verlassen zu müssen.«
Fanny erwiderte sein Lächeln und wirkte selbst jetzt, ausgehungert und mit tief in den Höhlen liegenden Augen, noch verführerisch. »Sie werden eine andere finden, die Ihnen beim Aufräumen Ihres Zimmers hilft, Sir. Eine reife Frau, die mehr Geduld mit einem älteren Mann wie Ihnen aufbringt.«
»Wir sind Ihnen sehr dankbar«, sagte Rose Campbell rasch. »Ohne Ihre Hilfe hätten wir den Winter bestimmt nicht überstanden. Aber jetzt wollen wir wieder auf eigenen Beinen stehen. Leben Sie wohl, Sir. Ma’am ...«
Mit einer Leinentasche, die Molly aus alten Säcken genäht hatte und in der sich ihre Decken, das Essgeschirr und ein paar Streichhölzer befanden, die Bryan organisiert hatte, verließen sie das Haus. Sie freuten sich gerade über die strahlende Sonne, als sie das Knarren von Rädern hörten und der Leichensammler, dem sie schon vor einigen Monaten begegnet waren, die Straße heraufkam. Auf seinem Leiterwagen lagen mehrere Leichen, darunter ein kleines Kind. Nachdem er sie eine Weile angesehen hatte,
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