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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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hatte keine Tränen mehr, war unfähig zu schluchzen oder zu schreien und nahm auch nicht die betretene Stille wahr, die im Speisesaal herrschte.
    Nach dem Essen, als alle anderen Frauen in den Hof gingen, war sie plötzlich verschwunden. Molly bemerkte es zuerst. Sie blickte sich suchend nach ihr um, nahm an, dass sie sich in einer schattigen Ecke verkrochen hatte, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Besorgt rannte sie ins Haus zurück.
    Im Flur kam ihr die Hausmutter entgegen. »Wo willst du hin?«
    »Bridget!«, rief Molly nur und lief weiter.
    Von plötzlicher Angst getrieben, stürmte sie die Treppe hinauf. Sie befürchtete das Schlimmste. So verzweifelt, wie Bridget sich im Speisesaal gegeben hatte, war sie zu allem fähig. Sie wäre nicht die erste Mutter, die sich während der Hungersnot selbst umbrachte, nachdem ihre Familien verhungert oder an einer schweren Krankheit wie der Cholera gestorben war.
    »Bridget!«, rief sie. »Tu’s nicht, Bridget!«
    Doch als sie den Schlafsaal erreichte, stand das Fenster offen und vom Hof drangen entsetzte Schreie zu ihr herauf. Sie hielt mitten in der Bewegung inne, stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab und näherte sich nur widerwillig dem offenen Fenster. Sie wusste, welcher schreckliche Anblick sie erwartete, doch wie unter einem inneren Zwang blickte sie in den Hof hinab und sah den leblosen Körper von Bridget im Sand liegen. Nur zögernd näherten sich die anderen Frauen der Toten und blieben entsetzt vor ihr stehen.
    Molly beobachtete, wie ihre Schwester beide Hände vor den Mund schlug und nicht glauben wollte, was sie sah. Ihre Mutter ließ die Arme hängen. Eine ältere Frau fasste sich ein Herz und beugte sich über die Tote, legte eine Hand auf ihren Hals und schüttelte den Kopf. Die Hausmutter scheuchte sie zur Seite und machte Platz für den Arzt, der sich nicht einmal zu bücken brauchte, um Bridgets Tod festzustellen. Ihr Körper war so zerschunden und ihr Kopf lag in einem so seltsamen Winkel zum Hals, dass kein Leben mehr in ihr sein konnte. Sie hatte sich das Genick gebrochen. Der Arzt überließ sie dem Pfarrer, der ein Gebet murmelte und ein Kreuz über ihr schlug, weitaus mehr, als die anderen Toten erfahren durften, und nickte zwei Helfern zu, die Bridget in eine Decke wickelten und aus dem Hof trugen. Sie zeigten keine Regung.
    Molly schloss das Fenster und kehrte in den Hof zurück. Mit Tränen in den Augen umarmte sie ihre Mutter und ihre Schwester. Einige der anderen Frauen weinten laut, wieder andere schienen Bridget schon vergessen zu haben.
    »Wir müssen stark sein«, sagte Rose Campbell.
    Sie ahnte wohl schon, dass der tragische Tod der jungen Mutter am Anfang einer neuen Ära stand. Der Herrgott schien sich nun endgültig von ihnen abgewandt zu haben und ließ dunkle Wolken über dem Arbeitshaus heraufziehen. Immer düsterer wurde die Stimmung zwischen den hohen Mauern. Die Prüfungen, die sie zu bestehen hatten, wurden von Tag zu Tag schwerer und Bridget würde nicht die Einzige bleiben, die daran scheiterte. Aus den dunklen Wolken stieg der Tod zu ihnen herab.
    Von einer stämmigen Frau aus Castlebar, die zwei Tage nach Bridgets Tod im Arbeitshaus erschien, weil ihr Mann am Schwarzen Fieber gestorben war und sie nicht mehr von seinem geringen Einkommen zehren konnte, erfuhren sie, wie bedenklich die Lage inzwischen außerhalb der Mauern war. »Die Leute hungern, auch in der Stadt. Sie hungern noch schlimmer als letztes Jahr. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Tote auf den Straßen liegen. Männer, Frauen und Kin-der ... vor allem Kinder. Verhungert oder erfroren. Die Leichensammler kommen kaum mit der Arbeit nach. Ihr merkt ja selbst, wie kalt es geworden ist, aber hier im Hof sind wir durch die Mauern geschützt und da draußen bläst der eisige Wind den Menschen mitten ins Gesicht. In der Stadt geht das Brennholz zur Neige. Die Leute in der Kirche frieren und der Pfarrer hat kaum noch was zu essen für sie. Die Menschen sterben wie die Fliegen. Niemand hilft uns. Die Amerikaner schicken keinen Mais mehr und die Türken, die uns helfen wollten, haben die Engländer nach Hause geschickt. Wir Iren sind selbst schuld an unserem Unglück, sagen die verdammten Engländer. Wir wären faul und hätten zu viele Kinder geboren. Sie wollen uns alle verhungern lassen, sie wollen, dass wir alle sterben!«
    Mit den Winterstürmen wurde auch die Lage im Arbeitshaus bedenklicher. Wie ein wütender Dämon heulte der Wind zwischen

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