Am Ufer der Traeume
Rest des Winters im Loch verbringen ... getrennt!«
»Schon gut«, gab Molly nach. »Das Brot und die Suppe.«
Während der folgenden Tage hoffte Molly vergeblich darauf, dass man Bridget zu ihrem kranken Sohn ließ. Weder während des Morgenappells noch zu den anderen Gelegenheiten, wenn sich der Master auf ihrer Seite sehen ließ, kam ein Zeichen von ihm. Molly wurde immer nervöser. Wenn der arme Junge wirklich die Cholera hatte und die Krankheit die Oberhand gewann, hatte er nicht mehr lange zu leben. Dann zählte jede Stunde, jede Minute.
Molly konnte kaum schlafen. Sie war die Einzige im Schlafsaal, die von der schweren Krankheit des Jungen wusste, und war nahe daran, den Master selbst aufzusuchen und ihn zu bitten, der armen Bridget ihren Wunsch zu erfüllen, als etwas geschah, das ihr auf drastische Weise vor Augen führte, wie hilflos die Menschen waren, wenn der Herrgott eine tragische und scheinbar unmenschliche Entscheidung traf.
Es begann damit, dass Bridget mitten in der Nacht einen Schreikrampf bekam. Sie schrie so laut, dass alle Frauen aus dem Schlaf schreckten und entsetzt auf die klagende und heulende Frau blickten. Mit verzerrtem Gesicht saß sie auf ihrem Lager, die Hände zu Fäusten geballt, als wäre ihr der Leibhaftige begegnet, um sie in die dunklen Abgründe der Hölle zu entführen.
Molly war als Erste aus dem Bett, rannte zu der jungen Mutter, die anscheinend aus einem Albtraum geschreckt und hochrot im Gesicht war, und schloss sie fest in die Arme. »Beruhige dich, Bridget!«, versuchte sie, die junge Frau zu besänftigen. »Beruhige dich! Es ist alles gut ... alles gut.«
Bridget hörte auf zu schreien und blickte Molly verständnislos an. »Timmy ist tot!«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Verstehst du nicht? Timmy ist tot ...«
»Du hast geträumt, Bridget! Du hast nur geträumt!«
»Ich habe ihn gesehen. Er atmet nicht mehr ...«
Molly strich ihr sanft über den Kopf. »Ein Albtraum, Bridget. Timmy liegt unter seiner Decke und schläft friedlich. Es wird alles gut. Beruhige dich!«
Die Lüge ging ihr leicht von den Lippen. Nur die leiseste Andeutung, dass es Timmy schlechter gehen könnte, hätte Bridget um den Verstand gebracht. »Schlaf weiter, Bridget«, sagte sie. »Ich bleibe bei dir. Ich passe auf dich auf.«
Sie blieb die ganze Nacht an ihrer Seite, hielt auch noch ihre Hand, als sie neben ihr auf den nackten Boden sank und einschlief und hielt sie mit beiden Händen fest, als die Glocke zum Aufstehen schlug und die Hausmutter hereinkam. Ihre Schritte hallten unheilvoll durch den Schlafsaal und ließen alle Gespräche verstummen. Alle spürten, dass sie eine schlechte Nachricht brachte.
Vor Bridget und Molly blieb sie stehen. Ihre Stimme verriet keinerlei Regung, als sie sich an die junge Mutter wandte. »Dein Sohn ist heute Nacht gestorben«, sagte sie. »Die Cholera. Komm mit, dann kannst du ihn sehen ...«
12
Während des Frühstücks war Bridget nicht zu sehen und auch zur Arbeit erschien die arme Frau nicht. Keine der Frauen fragte nach ihr, alle wussten, dass sie zu ihrem toten Sohn gegangen war und den schlimmsten Augenblick ihres Lebens erlebte. Ihren Ehemann und zwei Töchter hatte sie bereits verloren und jetzt hatte der Herrgott ihr auch noch das letzte Kind genommen.
Den Schrei, den sie beim Anblick ihres toten Sohnes ausstieß, glaubte Molly bis in die Nähstube zu hören. Sie blickte ihre Mutter und ihre Schwester an, sagte aber nichts. Während der Hungersnot verloren viele Frauen ihre Familien, aber nur wenigen wurde untersagt, ihren sterbenden Kindern die Hand zu halten und sie mit tröstenden Worten in den Tod zu begleiten.
Erst zum Mittagessen sah Molly die gepeinigte Mutter wieder. Die Hausmutter hatte ihr Herz entdeckt und Bridget erlaubt, den ganzen Morgen auf der Krankenstation zu verbringen, um sich zumindest körperlich von ihrem schweren Schicksalsschlag zu erholen. Bridget saß mit verweinten Augen und versteinertem Gesicht an ihrem Platz, löffelte stumm ihre Suppe und blickte nicht einmal auf, wenn jemand ihre Schultern berührte oder sie mit Worten zu trösten versuchte. Als hätte sie bereits selbst mit dem Leben abgeschlossen.
Nicht einmal, als Molly ihr eine halbe Scheibe Schwarzbrot hinüberschob, reagierte sie. Der Welt entrückt, starrte sie ins Leere, die Augen entzündet vom vielen Weinen, die Muskeln verkrampft und mit den Gedanken bei ihrem Sohn, der ohne ihr noch einmal zuzulächeln aus dem Leben gegangen war. Sie
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