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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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erinnerte er sich an sie und sein schmaler Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Hey ... ihr habt es geschafft! Ich wusste gleich, dass ihr euch nicht unterkriegen lasst. Und jetzt geht es nach Amerika, was? Glaubt mir, nur in Amerika seid ihr wirklich frei. Einer meiner Nachbarn ist schon letztes Jahr rüber. Ihm soll es prächtig gehen.«
    Rose Campbell blickte auf die Leichen. »Die armen Kinder.«
    »Ich hab mich an den Anblick gewöhnt«, erwiderte der Leichensammler. »Was meint ihr, wie viele Leichen ich diesen Winter durch die Gegend gekarrt habe, da macht einem der Anblick nichts mehr aus. Macht euch nichts vor, auch jetzt haben wir die Hungersnot noch nicht überstanden. Ich glaube sogar, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht. Die wenigsten Farmer haben neue Kartoffeln gepflanzt und alle Vorratskammern sind leer. Macht lieber, dass ihr schnell hier wegkommt. Auf Irland gebe ich keinen Penny mehr.«
    Der Leichensammler zog weiter und sie blieben allein vor dem Arbeitshaus stehen. Der laue Frühlingswind liebkoste ihre Haut, trieb aber auch den strengen Geruch der Leichen auf dem Wagen zu ihnen herüber. Erst jetzt bemerkten Fanny und ihre Mutter, dass Molly ein paar Schritte gegangen war und verzweifelt die Straße hinabblickte. »Bryan«, flüsterte sie, »er ist nicht hier!«
    Fanny legte eine Hand über die Augen und blickte ebenfalls in die Ferne, sah aber nur einen älteren Mann, der sich auf einen Stock stützte und humpelnd fortbewegte. »Woher soll er auch wissen, dass wir heute das Haus verlassen?«
    »Es ist Frühling.«
    »Seit gestern. Er ist bestimmt schon unterwegs.«
    »Oder er hat uns vergessen.«
    »Niemals!«
    Ihre Mutter beobachtete den alten Mann, der alle paar Schritte stehen blieb und nach Luft rang. Sein schmächtiger Körper war in Lumpen gekleidet. »Ich nehme an, er wartet weiter östlich auf uns, an der Straße nach Dublin«, sagte sie. »Oder er ist in die Berge zurückgegangen und sammelt Vorräte für unsere Reise.«
    »So wird es sein«, erwiderte Molly bereitwillig. »Er weiß, dass wir kommen, und geht auf die Jagd und sammelt Beeren. Wenn wir zu Fuß gehen müssen, brauchen wir mindestens zwei Wochen und nicht überall finden wir so viel Wild und so viele Beeren wie in den Bergen da drüben.« Sie deutete auf die Ausläufer des Croagh Patrick, die im klaren Sonnenlicht noch näher als sonst erschienen. Nur wenige Wolken hingen über dem spitzen Gipfel.
    Von neuer Zuversicht beseelt, wanderte Molly los, gefolgt von ihrer Schwester und ihrer Mutter, die kaum nachkamen, so sehr beeilte sie sich. Erst als sie bemerkte, wie schwach ihre Mutter war, zwang sie sich, langsamer zu gehen. Sie hakte sich bei ihr ein und stützte sie und dachte mit Schrecken daran, wie lange sie nach Dublin brauchen würden, wenn sich ihre Mutter nicht besser erholte. Zwanzig Tage, vielleicht sogar dreißig oder vierzig?
    Ihr Optimismus, vor wenigen Sekunden noch von der Hoffnung beseelt, Bryan zu finden und schon in zwei oder drei Wochen nach Amerika fahren zu können, verflüchtigte sich mit der Sonne, die hinter einigen Wolken verschwand und das Land im trüben Zwielicht zurückließ. Düstere Schatten überzogen die grünen Hügel und die holprige Straße, und der Wind trieb den Gestank von verbrannten Häusern und toten Menschen zu ihnen herauf. Scheiterte ihr Traum an der Schwäche ihrer Mutter? Würde Bryan sie zurücklassen und allein nach Amerika aufbrechen? Auch wenn sie ihn noch so sehr liebte, würde sie es niemals fertigbringen, ihre Mutter im Stich zu lassen.
    Rose erriet ihre quälenden Gedanken. »Ich bereite euch nur Umstände, nicht wahr? Ich weiß, ihr meint es gut mit mir, und ich bin euch auch sehr dankbar, aber ihr braucht keine Rücksicht auf mich zu nehmen. Die Zukunft gehört jungen Leuten wie euch. Fahrt ihr nach Amerika! Es soll Fabrikbesitzer geben, die Frauen wie euch das Ticket bezahlen, wenn sie in Amerika für ihre Firma arbeiten. Kranke Frauen wie mich wollen die nicht. Lasst mich zurück. Ich suche mir eine Stelle in Dublin, als Hausfrau oder Näherin.«
    »Kommt gar nicht infrage«, sagte Molly, »wir bleiben bei dir, Mutter!«
    »Wir lassen dich nicht im Stich«, beteuerte Fanny.
    Sie blieben auf der holprigen Straße, die immer noch gefroren war, und erreichten den Wald, in dem sie ihre erste Nacht nach der Vertreibung verbracht hatten, am frühen Nachmittag. Molly führte sie auf die Lichtung, auf der sie die Maynards getroffen hatten, und nahm die Leinentasche

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