Am Ufer der Traeume
den Mauern und trieb eisige Schneeschauer in den Hof, zwang die Bewohner, auch nach dem Mittagessen im schlecht beheizten Speisesaal zu bleiben. Die Frauen, die noch Verwandte draußen hatten, blickten ängstlich in den Flockenwirbel hinaus.
Das Essen wurde so knapp, dass sich der Master gezwungen sah, die Rationen zu kürzen. Die Suppe, die es jetzt nur noch alle zwei Tage gab, wurde noch dünner, das Schwarzbrot seltener, auch für Molly, ihre Schwester und ihre Mutter und sehr zur Verwunderung von Fanny, die mindestens einmal in der Woche vom Master angefordert wurde. Auch als es kein besseres Essen mehr gab, ging sie zu ihm und kehrte jedes Mal in gedrückter Stimmung zurück.
»Geh nicht mehr zu ihm«, bat Molly, »tu es nicht, Fanny!«
»Willst du, dass er Mutter wieder in die Waschküche schickt?«
Der einzige Lichtblick für Molly war der Gedanke an Bryan. Zu wissen, dass er nur wenige Schritte von ihr entfernt auf der anderen Seite der Mauer war und sich ebenso nach ihr verzehrte wie sie sich nach ihm. Bei einigermaßen schönem Wetter, wenn die Natur für einige Stunden den Atem anhielt und sie nach dem kargen Essen ihre Runden im Hof drehen durften, drückte sie oftmals ihre Hände gegen die Mauer und stellte sich vor, wie er das Gleiche tat. Manchmal glaubte sie sogar, seine Berührung zu spüren.
Von Bryan, mit dem sie sich trotz der drohenden Strafen weiterhin regelmäßig traf, erfuhr sie auch, warum man Bridget nicht zu ihrem sterbenden Sohn gelassen hatte. »Ich hab es versucht. Ich hab es wirklich versucht, verdammt. Den Pfaffen hatte ich beinahe schon rumgekriegt und die Schwester war auch dafür, als sie sah, wie schlecht es dem Jungen ging. Nur der Doktor stellte sich quer. ›Ich hab meine Vorschriften‹, sagte er. Ich wette, er hatte Angst, dass man ihn feuern würde, wenn er wegen eines kranken Jungen zum Master ging. So ein gutes Auskommen wie hier hat er doch nirgendwo sonst. Sogar jetzt kriegt der noch Fleisch. Der Master, die Hausmutter, der Doktor, die haben alle Fleisch auf den Tellern. Die essen das, was wir in einer Woche kriegen, an einem Tag! Ich hab den Doktor beschimpft, ich hab ihn einen Feigling genannt und dachte schon, er würde mich für den Rest meines Lebens ins Loch werfen lassen, aber mir passierte nichts. Er hatte wohl ein schlechtes Gewissen. Der weiß, dass er einige Tote zu verantworten hat. Wenn sie uns wenigstens ein bisschen Fleisch abgeben würden! Aber denen ist es völlig egal, was mit uns passiert. Hauptsache, sie bleiben am Leben!«
Das neue Jahr begann und die Lage wurde noch dramatischer. Der Master sah sich gezwungen, noch einmal die Rationen zu kürzen, und es ging bereits das Gerücht, dass jetzt auch er, die Hausmutter und ihre Mitarbeiter kein Fleisch mehr bekamen und sich sogar bei der Suppe einschränken mussten. Für die Bewohner gab es heiße Brühe nur noch einmal in der Woche, ansonsten Haferbrei, alle zwei Tage eine Scheibe Schwarzbrot und zu jeder Mahlzeit einen Becher Buttermilch. Immer mehr Bewohnerinnen brachen entkräftet zusammen und auch die Zahl der Toten erhöhte sich. An manchen Tagen musste Bryan über zehn Gräber ausheben. Die meisten Kranken blieben keine zwei Tage auf der Krankenstation, auch weil man ihnen nichts mehr zu essen gab, sobald feststand, dass sie nicht mehr zu retten waren. »Warum Essen vergeuden, wenn es ihnen sowieso nichts mehr nützt?«, hatte jemand den Master sagen hören. Manche Kranke berührte der Doktor nicht einmal, aus Angst, er könnte sich bei ihnen anstecken. Die Zeiten waren schlecht und jeder versuchte, so gut es nur ging, seine eigene Haut zu retten.
Zu den Frauen, die am meisten unter den eingeschränkten Rationen litten, gehörte auch Rose Campbell. Obwohl Molly und Fanny ihr von jeder Mahlzeit etwas abgaben, wurde sie immer gebrechlicher und schwächer. Sie hustete wieder und schaffte es kaum noch die Wendeltreppe hinauf. Selbst die leichten Näharbeiten strengten sie an. Ihre Wangen waren eingefallen und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Als Bryan davon erfuhr, brachte er Molly bei jedem Treffen eine Scheibe Schwarzbrot mit, eine Geste, für die sich Molly mit Tränen in den Augen bedankte, aber auch die trug nur wenig dazu bei, ihre Mutter am Leben zu erhalten. Sie rechnete jeden Morgen damit, dass sie entkräftet zusammenbrach und auf die Krankenstation abgeschoben wurde.
Ellen gab sich inzwischen mit einer halben Scheibe Brot zufrieden, aber auch die fehlte Molly, und sie spürte
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