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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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montierten Wagen der CIWL dem jüngsten Stand der Technik, die Gleise hingegen, über die der Zug ratterte und die zum Netz der k.u.k-privilegierten Österreichischen Staatsbahngesellschaft gehörten, schon sehr viel weniger. Und so durchlief immer dann, wenn eine Schiene an die nächste stieß, eine Erschütterung die Wagen, die sich in Sarahs Schriftbild niederschlug.
    Noch einmal überflog sie ihren Eintrag, dann schlug sie das Buch zu und legte es auf den kleinen Tisch, der unterhalb des Fensters angebracht war und sich im Bedarfsfall abklappen ließ – zu den Landkarten, die dort lagen, und dem geheimnisvoll anmutenden, würfelförmigen Gegenstand.
    Dem Codicubus …
    Zum ungezählten Mal griff Sarah nach dem Würfel und drehte ihn in den Händen, betrachtete ihn von allen Seiten. Sie hatte geglaubt, dass jener Kubus, der sie damals nach Alexandrien geführt hatte, einzigartig gewesen wäre und es auf der Welt keinen zweiten gab, aber offenbar hatte sie sich geirrt. Das Gebilde in ihrer Hand, das selbst die Kunstfertigkeit eines Artisten nicht zu öffnen vermocht hatte, war der beste Beweis dafür.
    Andererseits unterschied sich der Würfel in nichts von dem, der ihr damals in Paris übergeben worden war: Die Seiten waren von leichtem Rost überzogen, der der Stabilität des Gebildes allerdings nicht abträglich war, und genau wie bei jenem anderen Würfel waren die Buchstaben des Alexandersiegels sowie das Zeichen des Einen Auges eingraviert. In der Tat glichen sich beide Kuben so sehr, dass sich ein kühner Gedanke Sarahs bemächtigte.
    War es möglich, fragte sie sich, dass es in Wirklichkeit gar keinen zweiten Würfel gab? Dass sie in Wahrheit wieder jenes Artefakt in ihren Händen hielt, das ihr Vater ihr hinterlassen und dessen Besitz so viele Menschen mit einem grausamen Tod bezahlt hatten?
    Sarah schauderte.
    Tatsächlich hatte sie nur beobachtet, wie der Inhalt des Codicubus, die geheimen Pinakes 3 aus Alexandrien, zerstört worden war. Sie hatte stets nur angenommen, dass dem Würfel dasselbe Schicksal widerfahren war, einen Beweis dafür gab es nicht.
    Was aber bedeutete es, wenn der Kubus wirklich nach so langer Zeit zu ihr zurückgekehrt sein sollte? Welche Schlussfolgerungen ergaben sich daraus? Nicht mehr und nicht weniger, als dass jener Einäugige, der ihr den Würfel abgenommen hatte, und jener, der ihn ihr zurückgegeben hatte, einander gekannt haben mussten. Wie viele von ihnen mochte es geben? Und standen sie tatsächlich, wie sie immer wieder behaupteten, auf Sarahs Seite? Aber weshalb stellten sie ihr dann nach und verbreiteten Angst und Schrecken?
    Mit Grausen dachte Sarah nicht nur an ihr dramatisches Erlebnis in der Prager Kanalisation zurück, sondern auch an jene hünenhafte Gestalt, deren Umrisse sie im dichten Nebel Yorkshires gesehen hatte vor, so erschien es ihr zumindest, undenklich langer Zeit. Inzwischen war sie überzeugt davon, dass es sich auch bei jener unheimlichen Kreatur um einen Zyklopen gehandelt hatte, um einen Agenten des Einen Auges, das sie in all der Zeit, in der sie sich sicher und geborgen wähnte, nie aus dem Blick verloren hatte …
    Ein höfliches Klopfen an die Tür ihres Abteils ließ sie aufhorchen. »Ja, bitte?«
    »Ich bin es. Friedrich«, drang es durch das mit Intarsien versehene und glanzlackierte Blatt.
    »Immer herein«, erwiderte Sarah und stellte den Kubus zurück auf den Tisch.
    Die schmale Tür wurde geöffnet, und der Schweizer erschien, das Haar wirr wie eh und je. Während Sarah ein Zweierabteil zu ihrer alleinigen Verfügung hatte, mussten Hingis und Cranston sich eine Kabine teilen. Zusammen mit ihrer Zofe bewohnte Gräfin Czerny ein geräumiges Viererabteil, während die beiden Diener, die sie auf der Reise begleiteten, ebenfalls in einer Doppelkabine nächtigten.
    Das fünfte und letzte Abteil des Waggons war Kamal vorbehalten; die breite Liege war zum Krankenbett umfunktioniert worden, an dem zu jeder Zeit jemand Wache hielt, um notfalls sogleich Sarah oder Dr. Cranston zu verständigen.
    »Mahlzeit«, grüßte Hingis rustikal. Aus den dunklen Soßenspritzern auf seinem weißen Hemd sowie aus der Mischung von Fleischgeruch und Tabakqualm, die mit ihm in die Kabine schwappte, folgerte Sarah, dass er geradewegs aus dem Speisewagen kam. »Wo bleiben Sie denn? Wir haben Sie beim Mittagessen vermisst.«
    »Das bezweifle ich«, erwiderte Sarah und rang sich ein karges Lächeln ab. »Im Augenblick ist meine Gegenwart bei Tisch nicht sehr

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