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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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keines Blickes.
    »Und?«, erkundigte sich der Hüne.
    »Kein Zweifel«, erwiderte die Gräfin und gönnte sich ein leises, höhnisches Lachen. »Nun gehört er uns.«
    Der Hüne blickte auf sie herab, und endlich bequemte sich die Gräfin dazu, an ihm emporzublicken – in ein Gesicht, aus dessen hoher Stirn nur ein einzelnes Auge starrte.

8.
    R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
    Ich erinnere mich, in den Zeitungen vom Orient-Express gelesen zu haben – von einem ›außergewöhnlichen Spectaculum‹ war die Rede gewesen, von einem ›Wunderwerk moderner Technik‹. Nach allem, was ich sehe und erlebe, kann ich dem nur beipflichten.
    Schon bei der Anreise nach Prag haben uns die Schlafwagen der CIWL – oder ISG, wie sie hier in Österreich-Ungarn genannt wird – überaus wertvolle Dienste geleistet; im Vergleich zu denen, die auf der Orientstrecke eingesetzt werden, muten jene Waggons jedoch wie vorsintflutliche Gebilde an. Stahl, Glas und Teakholz bilden eine Einheit, die nicht nur schön anzusehen, sondern auch überaus zweckdienlich ist, und die Atmosphäre an Bord lässt sich nur mit der auf einem Ball oder einem festlichen Empfang vergleichen. Nach den Ereignissen von Prag kommt es mir vor, als wären wir der rauen Wirklichkeit entrückt, so sehr scheint sich alles an Bord um das Wohlergehen der Reisenden und ihre Zerstreuung zu drehen. Dabei brauche ich nur in die ausgezehrten, von Krankheit gezeichneten Züge Kamals zu blicken, um zu wissen, dass diese Reise nicht bloßer Verlustierung dient.
    Der Zug selbst besteht aus insgesamt sechs Waggons, die, wie man mir mitteilte, der klassischen Aufteilung des Orient-Express entsprechen. Der Lok – einem kraftstrotzenden, pechschwarzen Arbeitstier, das aus jeder Pore seines stählernen Körpers Dampf zu atmen scheint -folgt ein geräumiger Kohlentender, dem wiederum ein erster Gepäckwagen angeschlossen ist, der der Bevorratung des Proviants und der Getränke dient sowie die Unterkünfte des Personals beherbergt. Diesem schließt sich ein erster Schlafwagen an, einer jener riesigen, geräumigen Waggons, in deren überaus bequemen Abteilen insgesamt zwanzig Menschen Platz finden und an dessen Enden nach Geschlechtern getrennte Waschgelegenheiten eingerichtet sind. Die Abteile selbst sind hübsch eingerichtet und geräumig, mit Bänken, die sich bei Bedarf zur Schlafstatt umfunktionieren lassen.
    Den Mittelpunkt und gleichzeitig das Prunkstück des Zuges bildet der Speisewagen: Ein mit ledernen Gobelins und genuesischem Samt beschlagener, rollender Salon, in dessen winziger Küche ein französischer Koch Spezereien der erlesensten Sorte zuzubereiten pflegt; sogar an eine kleine Bibliothek und ein Boudoir für die mitreisenden Damen wurde gedacht, wobei ich mich in erstgenannter ungleich mehr zu Hause fühle. Dem Speisewagen ist ein zweiter Schlafwagen angegliedert; diesem folgt der Waggon der Gräfin, in dem wir dank Ludmilla von Czernys Freigebigkeit alle so überaus komfortabel reisen. Den Abschluss des Zuges bildet wiederum ein Gepäckwagen, in dem jedoch nicht nur die sperrigen, auf der Reise nicht benötigten Effekten der Fahrgäste verstaut sind, sondern wo es – ein nahezu unvorstellbarer Luxus – auch Duschkabinen mit heißem Wasser gibt, die es dem Reisenden ermöglichen, sich in regelmäßigen Abständen zu erfrischen.
    Derart luxuriös untergebracht, kommen wir zügig voran.
    Wien haben wir bereits hinter uns gelassen und fahren Budapest entgegen, vorbei an schneebedeckten Bäumen und von Raureif bestäubten Niederungen. Während draußen schneidende Kälte herrscht, sind die Wagen angenehm temperiert. Der Duft von Kaffee und frischem Backwerk liegt in der Luft und vermengt sich mit den Gerüchen von Wachs und Leder, die allgegenwärtig scheinen.
    Fast bedaure ich es, nicht bis an den Zielort Stambul reisen zu können, zusammen mit meinem Geliebten Kamal. Ich stelle mir vor, dass es unsere Hochzeitsreise wäre, von der wir so oft im Scherz gesprochen haben, und jäh überkommt mich Trauer. Denn es ist eine Reise ganz anderer Art, die wir angetreten haben, und während im Speisewagen Champagner in Strömen fließt und Coq au vin serviert wird, zerrinnt uns die Zeit unter den Händen …
    O RIENT -E XPRESS
M ITTAG DES 14. O KTOBER 1884
    Die Schrift, mit der Sarah Kincaid die Seiten ihres Tagebuchs beschrieben hatte, wirkte ein wenig ungelenk im Vergleich zu den Einträgen vorangegangener Tage. Zwar entsprachen die vierachsigen, auf modernen Drehgestellen

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