Am Ufer Des Styx
Alexandrien hat mich gelehrt, dass es bisweilen nicht genügt, jemandem ein zuverlässiger Kamerad und treuer Gefährte zu sein. Manchmal muss man den Seinen auch als Gewissen dienen.«
»Und Sie wollen mein Gewissen sein?«, fragte Sarah.
»So, wie Ihr Vater das meine gewesen ist«, bestätigte Hingis lächelnd. »Ich zahle lediglich eine Schuld zurück. Aber bis es so weit ist, werde ich alles daransetzen, dass Sie und Kamal zusammen …«
Er unterbrach sich, als es erneut im Gebüsch raschelte. Die Hand am Griff des Colt, blickte Sarah in die Richtung, aus der das Geräusch gedrungen war, doch infolge der grellen Flammen, in die sie gestarrt hatte, konnte sie kaum etwas anderes erkennen als helle und dunkle Flecke.
»Perikles?«, fragte sie halblaut.
Nicht nur, dass sie keine Antwort erhielt – es war plötzlich völlig still. Auch die gedämpften Stimmen der Treiber, die sich stets ein wenig abseits bei den Tieren aufhielten, waren verstummt, ebenso wie das Schnauben der Pferde. Nur noch das Rauschen des Flusses war zu vernehmen.
»Perikles?«, fragte Sarah noch einmal, während sie bereits ihre Waffe zog und den Hebel spannte. Auch Hingis griff nach seinem Gewehr, das er einhändig in den Anschlag nahm. »Bist du das …?«
Das Rascheln wiederholte sich, und tatsächlich teilte sich das Gebüsch, und der Makedone trat hervor – allerdings ganz anders, als Sarah und Hingis es erwartet hatten. Perikles’ Züge waren kreidebleich, die Hände hielt er zum Himmel gereckt. Noch mehr Gestalten drangen aus dem Dickicht, die alle den roten Fes und die blaue Uniform der türkischen Armee trugen und die ihn mit vorgehaltenen Gewehren in Schach hielten!
»Was hat das zu bedeuten?«, ereiferte sich Sarah und sprang auf. Hingis, der sich ebenfalls erhob, ermahnte sie zur Ruhe.
Noch mehr Uniformierte drängten auf die Lichtung. Auch die Treiber waren, wie sich zeigte, überrumpelt und entwaffnet worden, noch ehe sie auch nur einen Funken Widerstand hatten leisten können. Und schließlich wurde auch Alexis auf die Lichtung getrieben, der offenbar versucht hatte, sich im Unterholz zu verbergen.
Der Anführer der Soldaten, ein schlanker Offizier mit harten Gesichtszügen, der einen knielangen, mit orientalischen Ornamenten bestickten Mantel trug, rief Sarah und Hingis etwas zu. Zwar verstanden beide nicht, was er sagte, der Tonfall war jedoch unmissverständlich.
Die beiden tauschten einen langen Blick, dann ließen sie die Waffen sinken. Sich zu widersetzen wäre angesichts der Übermacht des Gegners reiner Selbstmord gewesen.
Sofort eilten zwei Soldaten herbei, die ihnen die Waffen abnahmen und sie mit vorgehaltenen Karabinern zu den anderen trieben.
»Kakó«, bemerkte Perikles mit trübsinnigem Blick.
»Wer sind die?«, wollte Hingis wissen.
»Eine Grenzpatrouille. Sie halten mich für einen Kollaborateur und Sie für ausländische Spione.«
»Das ist lächerlich«, echauffierte sich jetzt auch der sonst so beherrschte Schweizer und wollte in seinen Mantel greifen, um den Passierschein hervorzuziehen. Ein halbes Dutzend Gewehrläufe, die in den Anschlag gerissen und auf ihn angelegt wurden, hinderten ihn jedoch daran. »Perikles«, sagte Hingis mit bebender Stimme. »Wärst du so freundlich, es den Herren zu erklären …?«
Ihr Führer sagte einige Worte auf Türkisch, worauf der Offizier vor Hingis trat und seine Taschen eigenhändig durchsuchte. Dabei stieß er auf das lederne Mäppchen, welches das in Saloniki ausgestellte Dokument enthielt. Er zog es hervor, schlug es auf und betrachtete es mit breitem Grinsen.
»Was ist?«, wollte Sarah wissen.
Der Hauptmann sandte ihr einen geringschätzigen Blick zu, dabei zwirbelte er seinen üppigen Bart. Dann klappte er den Ausweis wieder zu – und warf ihn kurzerhand ins Feuer.
»Nein!«, rief Hingis entsetzt. »Das dürfen Sie nicht! Sie …«
Erneut waren es die Karabiner der Soldaten, die ihn jäh zum Schweigen brachten.
»Wie es aussieht«, kommentierte Sarah mit einem bedauernden Blick in die Flammen, »ist unser Passierschein gerade für ungültig erklärt worden.«
Der Hauptmann sprach einige Worte, die Perikles pflichtschuldig übersetzte: »Sagt, dass er Schein nicht anerkennt und wir alle verhaftet sind. Will uns mitnehmen nach Iaina, um zu überprüfen.«
»Für diesen Unsinn haben wir keine Zeit«, wehrte Sarah ab. »Sagen Sie ihm, dass er sich irrt. Wir sind keine Spione.«
Perikles übersetzte, aber natürlich gab sich der Türke wenig
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