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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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deutete auf das Eisen zwischen ihnen. »Wie darf ich das verstehen?«
    »Du musst nachdenken, Kamal. Versuche dich zu erinnern.«
    »Woran?«
    »Dieser Brief, der Scotland Yard auf deine Spur gebracht hat – irgendwer muss ihn verfasst und abgeschickt haben. Jemand, der dich besser kennt, als du es ahnst – und der dir schaden will.«
    »Wer könnte das sein?« Kamal zuckte mit den Achseln. »Ich kenne kaum jemanden in England, wie du weißt. Schon viel eher …«
    »Ja?«, fragte Sarah hoffnungsvoll.
    »… könnte ich mir denken, dass es dabei um dich geht, Sarah.«
    »Nein«, sagte sie ebenso schnell wie entschlossen.
    »Dein Vater hat dir nicht nur Kincaid Manor hinterlassen, wie du weißt, sondern auch mächtige Feinde. Das Feuer des Re mag vernichtet sein, aber Meherets Erben …«
    »Sie sind nicht mehr«, flüsterte Sarah entsetzt, »das hast du selbst gesagt.«
    »Es war meine begründete Hoffnung, dass wir die Bande zerschlagen hätten und Mortimer Laydons düstere Andeutungen nicht mehr gewesen wären als das Gefasel eines Mannes, der den Verstand verloren hat. Aber in den letzten Tagen und Stunden hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, Sarah, und ich vermute, dass möglicherweise …«
    »Nein«, wiederholte sie entschieden, fast trotzig. »Nicht meine Vergangenheit hat uns eingeholt, sondern deine, Kamal. Ägypten hat nichts damit zu tun.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Ich weiß es, weil …«
    Sie stockte, auf der Suche nach einem passenden Argument. Natürlich hatte Kamal Recht, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so musste sie sich eingestehen, dass auch sie schon an diese Möglichkeit gedacht hatte, wenn auch nur flüchtig. Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, waren zu beunruhigend …
    In diesem Moment ging die Besuchszeit zu Ende. Der Gefängniswärter, der Sarah hergeführt und sich, seiner groben Natur zum Trotz, für die Dauer des Gesprächs dezent im Hintergrund gehalten hatte, trat vor und räusperte sich hörbar.
    »Du musst gehen«, stellte Kamal fest.
    »Noch nicht.« Ihre Stimme klang fast flehend. »Ich habe doch eben erst zu dir gefunden …«
    »Du musst, wenn du wiederkommen willst«, entgegnete er und strich zärtlich über ihre Stirn. »In der Zwischenzeit werde ich nachdenken und mich zu erinnern versuchen.«
    »Bitte tu das«, erwiderte sie, und erneut hellte ein zaghaftes Lächeln ihre Miene auf. »Ich werde dich niemals im Stich lassen«, sagte sie zum Abschied.
    »Schwörst du es?«, fragte er zurück.
    »Ich schwöre es«, antwortete sie, und noch einmal trafen sich ihre Blicke für einen endlos scheinenden Augenblick, ehe sie sich umwandte und den Zellentrakt verließ.
    Ihre Empfindungen dabei waren zwiespältiger Natur. Einerseits war sie erleichtert, dass Kamal ihr glaubte und sie nicht mehr für die Urheberin seines Unglücks hielt; andererseits war da die Furcht vor dem, was kommen mochte, denn an der Aussichtslosigkeit der Situation hatte sich nichts geändert; und schließlich auch die dumpfe Ahnung, dass Kamals Befürchtungen, das anonyme Schreiben betreffend, vielleicht zutreffen könnten …
    Sarah verdrängte den Gedanken, aber die Düsternis in ihrem Herzen blieb, während sie dem Wärter durch die Gänge des Zuchthauses folgte, begleitet von heiserem Geschrei und bestialischem Gestank. Längst hatte sie die Orientierung verloren, wusste nicht einmal zu sagen, ob der Wärter sie auf demselben Weg hinausführte, über den sie hereingelangt waren, oder ob er einen anderen benutzte. Sie wollte ihn schon danach fragen, als ihr plötzlich eisige Kälte wie ein Messer in die Eingeweide fuhr.
    Eine Ahnung von bevorstehendem Unheil, die sich schon einen Augenblick später erfüllte, als Sarah eine krächzende, nur zu bekannte Stimme vernahm.
    »B-bist du das, mein Kind …?«
    Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen. Obwohl fast ein Jahr vergangen war, seit sie diese Stimme zuletzt gehört hatte, hätte sie sie unter Tausenden heraus erkannt, so tief und unauslöschlich hatte sie sich in ihre Erinnerung eingebrannt.
    »Bist du gekommen, um mich zu besuchen?«
    Langsam, wie in Trance, wandte sich Sarah der Zelle zu, aus der die heisere Stimme drang. Ihr Klang allein verriet, dass ihr Besitzer nicht mehr Herr seines Verstandes war – umso mehr fürchtete sich Sarah davor, ihm zu begegnen.
    Das Kichern, das ihr entgegenschlug, war so voller Häme und Bosheit, dass man es einer menschlichen Kehle kaum zugetraut hätte. Dennoch waren es Züge aus Fleisch und

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