Am Ufer Des Styx
Tafel gegenübersaß und wohl bemerkt hatte, dass Sarahs silberne Gabel ziellos im Essen stocherte und nur selten einen Bissen in ihren Mund beförderte. Natürlich war das Fleisch einwandfrei und von jener rosa Farbe, die dem Kenner wahre Gaumenfreuden verhieß, aber als Gentleman, der er war, wollte er ihr eine Brücke bauen.
»Nein, Sir Jeffrey«, entgegnete Sarah und schüttelte den Kopf. »Das Roastbeef schmeckt ausgezeichnet. Das Problem ist, dass ich keinen Hunger habe.«
»Das ist nur zu verständlich, meine Liebe. Dennoch sollten Sie etwas essen. Zwingen Sie sich dazu, wenn es sein muss. Es stehen uns anstrengende Tage, wenn nicht Wochen bevor.«
»Ich weiß, Sir Jeffrey, ich weiß«, versicherte Sarah und starrte auf ihren Teller.
»Bitte glauben Sie mir, teure Freundin, dass ich alles Menschenmögliche unternehmen werde, um Kamals Strafe so gering wie möglich ausfallen zu lassen. Das gesammelte Wissen eines langen Anwaltslebens steht Ihnen zu Gebote, ganz abgesehen davon, dass auch die Kammer des Temple Bar Ihnen jede nur denkbare Unterstützung zukommen lässt.«
»Das ist mir klar, Sir Jeffrey«, beteuerte Sarah und rang sich ein Lächeln ab, »und bitte denken Sie nicht von mir, dass ich Ihre Bemühungen nicht zu schätzen wüsste. Es ist nur …«
»Laydon, nicht wahr?«
Sir Jeffreys Frage kam so unvermittelt, dass Sarah erschrocken aufblickte. Erneut genügte schon der Klang des Namens, um sie bis ins Mark erschaudern zu lassen.
»Dieser elende Tunichtgut«, wetterte Sir Jeffrey. »Dass Sie ihm auch begegnen mussten …«
Im ersten Moment wollte Sarah widersprechen und versichern, was sie auch in ihr Tagebuch geschrieben hatte: dass sie jeden Gedanken an Laydon verdränge und ihre ganze Sorge Kamal gehöre.
Allerdings entsprach dies nicht der Wahrheit.
»Er schien etwas zu wissen«, sagte sie leise.
»Wer? Laydon?«
Sie nickte zaghaft.
»Wohl kaum. Dieser elende Verbrecher weiß doch kaum, was er selbst tut, geschweige denn, was um ihn herum vor sich geht.«
»Unterschätzen Sie ihn nicht, Sir Jeffrey. Ich kenne ihn besser als Sie …«
»Das will ich gar nicht bestreiten, meine Teure. Und ich kann gut verstehen, dass Ihnen die Begegnung mit ihm zusetzt, nach allem, was er Ihnen und Ihrer Familie angetan hat. Aber Sie dürfen das, was gewesen ist, nicht mit der Gegenwart verwechseln. Mortimer Laydon stellt keine Gefahr mehr dar. Er wurde gefasst, und ein königliches Gericht hat ihn seiner Untaten überführt und für schuldig befunden. Er wird niemals wieder jemandem Schaden zufügen können – weder Ihnen noch sonst irgendwem.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr, Sir Jeffrey«, entgegnete Sarah. »Aber das ist es auch nicht, was mich ängstigt.«
»Nein?«
»Ich habe mich einmal gegen Mortimer Laydon zur Wehr gesetzt und würde es wieder tun«, stellte Sarah klar. »Sorge bereitet mir das, was Laydon möglicherweise weiß.«
»Und das wäre?«, fragte der Q. C. unverhohlen skeptisch.
»Es hat mit etwas zu tun, das Kamal sagte«, erklärte Sarah. »Bei meinem Besuch heute Nachmittag äußerte er die Vermutung, dass es bei dieser Sache möglicherweise gar nicht um ihn gehe, sondern dass in Wahrheit jemand versuchen könnte, mir zu schaden.«
»Halten Sie das denn für möglich?«
»Zunächst habe ich den Gedanken weit von mir gewiesen, wohl weil ich glauben wollte, dass die Vergangenheit endgültig hinter mir liegt, dass sie abgeschlossen ist wie die Kapitel eines Buches, das man gelesen hat und zurück in den Schrank stellt. Die Begegnung mit Laydon hat mir jedoch gezeigt, dass es nicht so ist. Die Wunden sind noch immer vorhanden, Sir Jeffrey. Sie mögen oberflächlich verheilt sein, aber sie existieren noch.«
»Teure Freundin«, meinte der königliche Berater und senkte ehrerbietig das Haupt, »nach allem, was gewesen ist, würde es mich wundern, wenn es anders wäre. Allerdings bedeutet das nicht, dass Sie sich noch vor der Vergangenheit fürchten müssten. Was immer Laydon und diese Leute von Ihnen wollten, es liegt vernichtet und unter dem Sand der Wüste begraben.«
»Das ist wahr«, räumte Sarah ein, »und dennoch komme ich nicht zur Ruhe. Laydon fragte mich nach Kamal, gerade so, als wüsste er von seiner Inhaftierung. Ist das nicht seltsam?«
»Eigentlich nicht.« Sir Jeffrey schürzte die Lippen. »Obgleich die Häftlinge in Newgate in strenger Einzelhaft untergebracht sind, kennen sie Mittel und Wege, sich untereinander zu verständigen. Manche Dinge sprechen sich eben
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