Am Ufer Des Styx
tatsächlich zu tun hast. Vielleicht hat sich Gardin er ja doch in dir geirrt, und du bist weit weniger brillant, als er immer angenommen hat …«
Sarah bebte innerlich.
Laydon den Namen ihres Vaters aussprechen zu hören entfachte ihren Zorn nur noch mehr. Vergeblich versuchte sie sich zu beruhigen und sich einzureden, dass es nur das Gewäsch eines Geisteskranken war. Die Worte des Mörders versetzten sie in Aufruhr, und das Gift, das er wie ehedem verspritzte, blieb nicht ohne Wirkung. Irrationale Furcht ergriff plötzlich von Sarah Besitz, und sie sagte sich, dass es besser war, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Ohne ein Wort des Grußes trat sie von der Zellentür zurück und wandte sich um, und in Begleitung des Gefängniswärters setzte sie den Weg nach draußen fort, verfolgt von Laydons geistlosem Geschrei.
»Es ist noch nicht vorbei! Wir werden uns wiedersehen, Sarah Kincaid«, rief er ihr nach, um sich sogleich erneut in hysterischem Gelächter zu ergehen, das von der niederen Gewölbedecke zurückgeworfen wurde und sich anhörte wie das Kreischen eines Affen. Einige der Häftlinge – vor allem wohl jene, die schon lange genug in dieser feuchten und dunklen Hölle einsaßen, um einen Teil ihres Verstandes eingebüßt zu haben – fielen in sein Geschrei mit ein, und so wurden Sarah und ihr Begleiter von einer Woge keifenden Gelächters erfasst und nach draußen gespült, zurück in den tristen Innenhof.
In düstere Gedanken versunken, durchquerte Sarah den Hof und das Tor und kehrte zu der Brougham-Kutsche zurück, die Sir Jeffrey ihr für die Dauer ihres Aufenthalts in London zur Verfügung gestellt hatte. Der Kutscher, ein beleibter Mann aus Sir Jeffreys Diensten, der einen etwas zu engen Rock trug, war ihr beim Einstieg behilflich. Erschöpft ließ sich Sarah auf die mit dunklem Samt bezogene Sitzbank fallen und blickte gedankenverloren nach draußen.
Mit einem Ruck fuhr die Kutsche an, und sowohl die einschüchternden Mauern von Newgate als auch die benachbarten Gebäude verschwanden hinter der Wand aus dichtem Nebel, der London in den Klauen hielt und nicht gewillt schien, sich jemals wieder zu lichten.
6.
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
Mortimer Laydon.
Allein der Klang dieses Namens ist dazu angetan, mir kalte Schauer über den Rücken zu jagen, denn er erinnert mich zugleich an meine dunkelste Stunde und meine größte Verfehlung: jenen grausamen Augenblick, in dem mein Vater starb, niedergestreckt von der Klinge seines Mörders, und ich zu unerfahren und zu blind vor Schmerz und Trauer, um den wahren Täter zu erkennen.
Obwohl Laydons Worte mich verfolgen und ich immerzu seine knochigen, von Hass und Wahnsinn verzerrten Züge vor Augen habe, erscheinen meine eigenen Nöte und Ängste mir gering im Vergleich zu denen meines Geliebten, dem in diesen Tagen meine ganze Sorge gilt. Ich klammere mich an die Hoffnung, dass Sir Jeffreys Bemühungen vielleicht doch noch von Erfolg gekrönt sein werden und es einen Weg geben könnte, Kamal zu retten – doch je mehr Zeit verstreicht und je finsterer Sir Jeffeys Züge werden, desto mehr muss auch ich erkennen, dass uns nach menschlichem Ermessen keine Chance bleibt.
Was wir brauchen, ist ein Wunder …
M AYFAIR , L ONDON
A BEND DES 25. S EPTEMBER 1884
Es war still im Speisezimmer. Nur das Ticken der großen Standuhr war zu hören, deren Pendel träge hin und her schwang und das Verstreichen der Zeit gleichmütig zur Kenntnis nahm.
Anders als Sarah.
Sie war Sir Jeffrey dankbar – nicht nur, weil er sie für die Dauer ihres Aufenthalts in London in seine Villa in Mayfair aufgenommen hatte, sondern auch, weil er sich nach Kräften bemühte, ihr nicht nur ein guter Anwalt, sondern auch ein väterlicher Freund zu sein. Die Abende allerdings hätte sie lieber in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers verbracht, als in Gesellschaft Sir Jeffreys zu dinieren. Immerhin hatte der königliche Berater darauf verzichtet, auch noch Freunde oder Kollegen zum Essen einzuladen, wie es in seinen Kreisen üblich war, sodass Sarah zumindest nicht gezwungen war, belanglose Konversation zu betreiben, während sie mit Gedanken an ganz anderen Orten weilte. Aber auch so hätte sie die Einsamkeit ihres Zimmers vorgezogen. Da war so viel, worüber sie sich klar werden musste; Gefühle und Eindrücke, die es zu verwinden galt.
»Sollte am Roastbeef etwas auszusetzen sein?«, erkundigte sich Sir Jeffrey besorgt, der ihr am anderen Ende der langen
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