Am Ufer Des Styx
scheint sich der Wind zu legen, und weißer Nebel entsteht über dem Wasser und kriecht in zähen Schwaden Richtung Ufer.
Die Trauernden haben sich indes um den Leichnam versammelt und bereiten ihn für seine letzte Reise vor. Von ihrem Platz aus kann Sarah nicht erkennen, was genau sie tun, aber es wird deutlich, dass sie mit großem Ernst und ebensolcher Sorgfalt zu Werke gehen. Endlich haben sie ihre Arbeit beendet und treten zurück.
Völlige Stille tritt ein.
Die Klagelaute sind verstummt, selbst der Wind hat ausgesetzt. Der Nebel, der inzwischen das Ufer erreicht hat und immer dichter wird, scheint ihn vertrieben zu haben.
So plötzlich, wie sie aufgetaucht sind, ziehen sich die Trauernden wieder zurück. Schweigend wenden sie sich ab, verlassen das Ufer und sind schon kurz darauf im Nebel verschwunden. Die Bahre mit dem Leichnam haben sie zurückgelassen.
Ohne dass Sarah den Grund dafür benennen könnte, spürt sie plötzlich Neugier. Sie will sehen, wer der Tote ist, der einem alten Brauch gemäß ans Ufer des Jenseitsflusses gebracht wurde, um seine Fahrt ins Totenreich anzutreten. Vorsichtig setzt sie sich in Bewegung und hat das Gefühl, über die flachen Steine zu gleiten, die das Flussbett säumen – und erreicht kurz darauf die Bahre.
Der Tote ist ein Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren. Seine stolzen Züge wirken selbst im Tode noch anmutig und schön, sodass sich Sarah unwillkürlich fragt, wer er gewesen sein mag. Sein Mund ist halb geöffnet. Durch die Reihen seiner makellosen Zähne sieht Sarah im fahlen Dämmerlicht etwas blitzen – eine Münze zweifellos, die man dem Verstorbenen in den Mund gelegt hat, um den Fährmann für die Fahrt ins Totenreich zu bezahlen.
Sarah schaudert und weiß nicht, ob es an der Kälte liegt oder an der Gegenwart des Todes. Krampfhaft redet sie sich ein, dass die Geschichte vom Totenfluss Styx und vom Fährmann Charon nur einem alten Aberglauben entsprungen ist – als sie hinter sich plötzlich ein Plätschern hört.
Erschrocken fährt sie herum, erhascht durch die dichten Nebelschwaden einen Blick auf ein Boot, das sich über den Fluss nähert. Im Heck des Nachens steht eine groß gewachsene, hünenhafte Gestalt, die das Gefährt mit einer langen Stange antreibt. Im Zwielicht ist kaum mehr als die Silhouette zu erkennen, aber Sarah weiß dennoch, wen sie vor sich hat.
Charon!
Den Fährmann des Totenreichs …
Blankes Entsetzen ergreift von ihr Besitz. Einen unterdrückten Schrei auf den Lippen, fährt sie herum und will die Flucht ergreifen – doch dazu kommt es nicht. Denn als Sarah einen zweiten Blick auf die selbst in der Leblosigkeit noch so edlen und anmutigen Züge des Toten wirft, erstarrt sie vor Entsetzen.
Der Tote … ist Kamal!
»Kamal!«
Ihr eigener heiserer Schrei drang an Sarah Kincaids Bewusstsein und machte ihr endgültig klar, dass das, was sie gesehen hatte, nur ein Trugbild gewesen war, die Ausgeburt eines Nachtmahrs, der sie bis in den Schlaf hinein verfolgt hatte.
Dennoch konnte sie sich kaum beruhigen.
Aufrecht saß sie im Bett. Ihr Atem ging schnell und keuchend, ihr Nachthemd klebte tatsächlich kalt und klamm an ihr – nur dass es nicht der Nebel gewesen war, der es durchfeuchtet hatte, sondern ihr eigener Schweiß. Noch immer wurde sie von Grauen geschüttelt, auch wenn ihr Verstand sie längst zu beruhigen suchte und ihr klarmachte, dass nichts von dem, was sie gesehen hatte, wirklich gewesen war.
Warum aber, so fragte sie sich, hatte sich jener Traum dann so wirklich, so endgültig angefühlt? Wieso hatte sie das Gefühl gehabt, nicht nur die Trauer am eigenen Leib zu spüren, sondern den eisigen Hauch des Todes?
Sarah war es gewohnt, Träume zu haben.
Seit ihrer Kindheit wurde sie davon verfolgt, und seit dem Tod ihres Vaters schien es, als wären die Schleusen ihrer Seele geöffnet worden und als dränge all das, was tief in ihr verborgen gewesen war, mit Urgewalt ans Licht. Sarah hatte stets angenommen, dass diese Träume mit der Dunkelzeit zusammenhingen, jenem Abschnitt ihrer frühen Kindheit, an den sie sich nicht erinnern konnte, aber stets hatte sie in diesen Träumen nicht mehr wahrgenommen als verschwommene Schemen und flüchtige Eindrücke. Nie zuvor hatte sie einen Traum von solcher Deutlichkeit gehabt, und sie fragte sich, woran das liegen mochte. Zudem machte es sie nachdenklich, dass ihre Träume, die Dunkelzeit betreffend, in letzter Zeit weniger geworden waren, was sie bisher der Nähe und
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