Am Ufer Des Styx
schöne Grüße von mir. Richte ihm aus, dass ich ihm für seine Dienste dankbar bin, dass ich sie aber nicht länger benötige.«
»Nein? Wer wird dich dann verteidigen?«
»Niemand«, lautete die ebenso schlichte wie erschütternde Antwort.
»Niemand?« Sarahs Augen weiteten sich in grobem Unverständnis. »Aber wenn dich niemand verteidigt, hast du vor Gericht keine Chance. Du hast die Ereignisse von damals gestanden. Der Staatsanwalt wird alles daransetzen, dich an den Strick zu liefern.«
»Ich weiß, Sarah.«
»Dann weißt du auch, dass du ohne einen erfahrenen Verteidiger kaum Aussicht hast, dem Henker zu entgehen«, sagte Sarah mit brutaler Offenheit.
»Auch das ist mir klar.«
»Aber dann … dann …«, stammelte Sarah, ehe sie ganz verstummte. Ihr war klar, was Kamals Entscheidung zu bedeuten hatte, aber sie brachte es nicht übers Herz, es auszusprechen.
»Wie du schon sagtest, Sarah«, übernahm Kamal es an ihrer Stelle, »bin ich ein überführter Mörder. Da sich die Tat gegen zwei Angehörige des Militärs gerichtet hat, wird der Staatsanwalt ohne Frage für meine Hinrichtung plädieren. Verzichte ich auf meine Verteidigung, so wird das Gericht dem Antrag folgen. Tritt jedoch Sir Jeffrey als mein Anwalt vor die Schranken, werde ich vielleicht nur wegen Totschlags verurteilt und verbringe die nächsten zwanzig Jahre innerhalb dieser Mauern. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?«
Wortlos starrte sie ihn an, war weder in der Lage zu verneinen noch zu bejahen.
»Ich bin ein Sohn der Wüste, Sarah. Ich liebe das endlose Meer der Dünen, den Wind in meinem Haar und den Sand zwischen den Zähnen. Hier jedoch gibt es nichts davon – nur Dunkelheit und Schmutz und einen langsamen Tod.«
»Du meinst …«
»Lieber setzt der Strick des Henkers meinem Dasein ein rasches Ende, als dass ich hier eingesperrt bin. Ich würde es nicht ertragen, Sarah, und qualvoll zugrunde gehen.«
Sie starrte ihn noch immer an, und erneut trafen sich ihre Blicke für eine kleine Ewigkeit. Ein krampfhaftes Nicken war alles, was sie zustande brachte, während sie mit aller Macht die Tränen zurückhielt – zumindest sollte Kamal sie nicht weinen sehen. Als die Trauer zu obsiegen drohte, wandte sich Sarah ab.
»Sarah«, hauchte Kamal, der ihre Reaktion missdeutete. »Versuch bitte zu verstehen …«
»Ich verstehe«, sagte sie nur, während ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. »Ich verstehe durchaus. Es ist nur …« Sie schüttelte den Kopf.
Dass Kamal den Tod am Strang der jahrelangen Kerkerhaft vorzog, konnte ihr Verstand tatsächlich nachvollziehen – ihr Herz jedoch sprach eine andere Sprache. Sarah wollte ihren Geliebten nicht verlieren und hielt mit aller Macht an ihm fest. Aber welchen Sinn hatte es noch, um Kamals Leben zu kämpfen, wenn er es selbst nicht wollte? Welchen Sinn hatte das alles?
Da war sie wieder, die Frage nach dem Schicksal, nach einer ordnenden Macht inmitten des Chaos – und in ihrer Verzweiflung konnte Sarah nicht anders, als sie verneinen. Warum, fragte sie sich, blieben ihr jeweils nur flüchtige Augenblicke des Glücks? Weshalb war es ihr Schicksal, stets jene zu verlieren, die sie in ihr Herz geschlossen hatte? Trotz erwachte in ihr, der unbändige Wille, sich ihr Glück nicht noch einmal rauben zu lassen.
Ein ebenso wagemutiger wie verzweifelter Plan, den sie bislang als gefährlich und abwegig verworfen hatte, schien ihr plötzlich erwägenswert, und sie beschloss, alles daranzusetzen, ihn zu realisieren.
»Bringen Sie mich hinaus«, wies sie den Wärter an, »aber auf anderem Wege als gestern. Können Sie das?«
»Klar«, erwiderte der Wachmann und entblößte zwei Reihen gelber, ungepflegter Zähne. »Es gibt ’ne Menge Wege nach Newgate und mindestens noch ma so viele raus – außer man hat was ausgefressen.«
Er lachte dröhnend über seinen eigenen Scherz und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Sarah folgte ihm, ohne sich noch einmal zu Kamal umzuwenden. Zum einen sollte er ihre Tränen nicht sehen, zum anderen befürchtete sie, dass er erahnen könnte, was sie vorhatte. Es war wichtig, dass Kamal nichts von Sarahs Plänen erfuhr – wenn seine Befreiung scheitern sollte, war es besser, wenn er von nichts gewusst hatte.
»Sarah!«, rief er ihr hinterher. »Bitte, geh nicht! Bleib hier …« – aber sie ließ sich nicht beirren. Unverwandt folgte sie dem Gefängniswärter.
»Du hast es geschworen, weißt du noch? Du hast geschworen, bei mir zu bleiben«,
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