Am Ufer Des Styx
hatte, gewährte man ihr abermals Zutritt zum Zellentrakt, der ihr an diesem Morgen beinahe noch trister und verkommener erschien als am Tag zuvor. Vergeblich versuchte Sarah, sich die verwirrende Reihenfolge der Treppen und Korridore einzuprägen, die sie auf ihrem Weg in die dunklen Innereien des Gefängnisses zurücklegten. Sie hatte den Eindruck, dass der Wärter sie erneut auf einem anderen Weg führte, sei es, um sie zu beeindrucken oder um sie gezielt zu verwirren.
Sie passierten einen Raum, der durch ein Eisengitter vom Korridor abgetrennt war. Dahinter hatte ein halbes Dutzend Männer Aufstellung genommen – bucklige, abgemagerte Gestalten, die so nackt waren, wie ihr Schöpfer sie geschaffen hatte. Die Köpfe hatte man ihnen geschoren, ihre blasse Haut war von unzähligen Blessuren und Narben übersät, die auf ein hartes, entbehrungsreiches Leben schließen ließen. Zwei uniformierte Gefängniswärter waren dabei, ein metallenes Behältnis in Stellung zu bringen, an dem ein Pumphebel sowie ein Schlauch befestigt waren. Und ehe die Gefangenen noch begriffen, wie ihnen geschah, waren die beiden Wärter schon dabei, sie mit einer rötlichen Chemikalie zu besprühen, die den Reaktionen der Männer nach wie Feuer auf der nackten Haut brennen musste.
»Neuzugänge, Ma’am«, erklärte der Wärter ungerührt. »Wenn se hier ankommen, wer’n se erst mal or’ntlich gewaschen und entlaust. Das is’ notwendig, könnse mir glauben.«
Sarah erwiderte nichts. Sie zweifelte nicht daran, dass er sie hergeführt hatte, um sie zu brüskieren und dabei zuzusehen, wie sich ihre Züge angesichts der nackten Männlichkeit puterrot färbten. Sarah wurde tatsächlich rot im Gesicht, allerdings nicht vor Scham, sondern vor Zorn darüber, dass auch Kamal diese entwürdigende Zeremonie über sich hatte ergehen lassen müssen …
Endlich erreichten sie den Gang, an dessen Ende Kamals Zelle lag. Auf den letzten Yards hielt Sarah es nicht mehr aus. Sie beschleunigte ihren Schritt und begann zu laufen, überholte den Wärter, der mit einem unwilligen Knurren reagierte.
»Kamal?«, fragte sie, durch das Guckfenster spähend.
Er lag reglos auf der Pritsche, zur Wand gedreht, sodass er ihr den Rücken zukehrte. Die Decke, die er über sich gebreitet hatte, war ein von Motten zerfressener Fetzen.
»Kamal! Ich bin es, Sarah …«
Ihre Stimme bebte vor mühsam zurückgehaltener Sorge, die sich erst legte, als sich ihr Geliebter zu regen begann.
»Hast du nich’ gehört?«, blaffte der Wärter in die Zelle. »Du sollst aufwachen!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm er den hölzernen Schlagstock und drosch damit gegen die Tür. Das metallische Dröhnen ließ nicht nur Kamal hochfahren, sondern auch die Insassen der angrenzenden Zellen.
»Sir«, knurrte Sarah unwillig, »würde es Ihnen etwas ausmachen, keinen solchen Höllenlärm zu verursachen?«
»Sie wollten, dass er aufwacht, oder nich’?«, erwiderte der Wärter achselzuckend. »Nun is’ er wach …«
Das ließ sich nicht bestreiten.
Kamal hatte sich aufgesetzt und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Als er Sarah gewahrte, zuckte er zusammen.
»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich.
»W-was tust du hier?«, erkundigte er sich, sprang von der Pritsche und trat an die Tür. »Es ist noch früh …«
»Ich weiß«, sagte sie nur. »Ich musste dich sehen.«
»Warum?« Er lächelte dünn. »Hattest du wieder einen deiner Träume? Musst du getröstet werden?«
»Natürlich nicht«, beeilte sie sich zu versichern – während sie sich einmal mehr darüber wunderte, wie gut er sie bereits nach diesen wenigen Monaten kannte.
»Egal«, meinte er, »ich bin froh, dass du hier bist. Wenn du vor meiner Zelle auftauchst, ist es, als würde helles Sonnenlicht in dieses elende Gemäuer dringen.«
»Deinen Charme hast du jedenfalls noch«, stellte sie fest und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab, das jedoch sogleich wieder verschwand. »Hast du nachgedacht?«, wollte sie wissen.
»Allerdings.«
»Und?« Sarah verspürte jähe Hoffnung. »Hast du einen Verdacht, wer das Schreiben an den Yard geschickt haben könnte?«
»Nein«, gestand Kamal offen und zu Sarahs größter Enttäuschung. »Aber ich bin dennoch zu einem Entschluss gelangt.«
»Nämlich?«
»Ich möchte, dass du Sir Jeffrey von seinem Mandat entbindest.«
»Was?«
»Ich bin dankbar für seine Hilfe«, bekräftigte Kamal, »aber ich will sie nicht länger in Anspruch nehmen. Bestelle Sir Jeffrey
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