Am Ufer Des Styx
dem beruhigenden Einfluss Kamals zugeschrieben hatte.
Was also hatte es zu bedeuten, wenn sie nun mit größerer Intensität träumte als je zuvor? Wenn das, was ihr im Traum vor Augen stand, so real anmutete, dass es sie selbst im Wachen noch verfolgte?
War es mehr als ein Traum gewesen?
Hatte sie … eine Vision gehabt?
Noch vor zwei Jahren hätte Sarah über einen solchen Gedanken nur gelacht und ihn als absurd verworfen. Sie hatte sich stets als rationales Wesen betrachtet, als Verstandesmensch, der den Prinzipien der Wissenschaft verpflichtet war. Die zurückliegenden Ereignisse und die Begegnungen mit Maurice du Gard und Kamal Ben Nara hatten sie jedoch ins Zweifeln gebracht. Denn so verschieden beide sein mochten – der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal und eine höhere Macht, die ihre Schritte lenkte, war ihnen gemeinsam.
Ihre Methoden freilich unterschieden sich ganz erheblich: Während du Gard den Opiumdrachen geritten und die Karten des Tarot benutzt hatte, um in die Zukunft zu blicken, glaubte Kamal mit der ganzen Kraft seines Herzens an die Weisheit und Allmacht von Allah.
Und Sarah?
Woran glaubte sie?
Anders als Kamal und du Gard konnte sie keine tiefere Bedeutung in ihren Träumen erkennen. Im Sterben hatte ihr Vater sie um Verzeihung gebeten, aber er war nicht mehr dazu gekommen, ihr die Hintergründe jener geheimnisvollen Geschehnisse zu erklären, die ihn nach Alexandrien geführt hatten; ebenso wenig wie du Gard, dessen letzte Worte Sarah und seiner Liebe zu ihr gegolten hatten. Beide hatten etwas über ihre Vergangenheit gewusst und dieses Wissen mit ins Grab genommen. Geblieben war nur Chaos.
Spuren, die sich im Nichts verloren.
Andeutungen, die keinen Sinn ergaben.
Ereignisse, die Sarah nicht zu deuten vermochte.
Träume, die sie ängstigten.
Noch immer sah sie Kamal auf jener Bahre liegen, von Nebelschwaden umwölkt und eine Münze unter der Zunge, die seine Passage über den Styx bezahlen sollte.
Von Unrast getrieben schwang sie sich aus dem Bett. Das kalte Parkett knarrte unter ihren Füßen. Sie huschte zum Fenster und zog den Vorhang einen Spaltbreit auf. Über den flachen Dächern und spitzen Kaminen Mayfairs hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Ein orangerotes, von zartem Lila durchzogenes Leuchten, das Sarah auf beunruhigende Weise an ihren Traum erinnerte, setzte den Himmel im Osten in Brand. Der neue Tag war angebrochen, und Sarah beschloss für sich, dass sie nicht länger warten konnte.
Sie musste zurück nach Newgate.
Zu Kamal …
7.
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
In der Brougham-Kutsche Sir Jeffreys fuhr ich ein zweites Mal nach Newgate. Auf den Einfallstraßen herrschte reger Verkehr, und fast erschien es mir, als müsse unser Zweispänner sich mit aller Kraft gegen die Masse derer stemmen, die zu dieser frühen Stunde stadteinwärts strömten: Tagelöhner und Arbeiter, Handwerker und Händler; hohe Herren, die es vorzogen, außerhalb der Stadt zu nächtigen, am Morgen jedoch zu den Inns of Court oder zum Stock Exchange aufbrachen, um an den Schalthebeln der Macht zu wirken. Einige von ihnen reisten zu Pferde, die meisten zogen es jedoch vor, sich in Hansom-Kutschen der neuesten Bauart chauffieren zu lassen, mit denen sich auch eine Menge Eindruck schinden lässt und die mit klobigen, bis über den Rand beladenen Fuhrwerken um jeden Zoll Straße ringen. Öffentliche Kutschen, mit Fässern beladene Brauereifuhrwerke, von Ochsen gezogene Karren, die zu den Märkten in Covent Garden oder Billingsgate fuhren – sie alle schienen es kaum erwarten zu können, in die große Stadt zu gelangen.
Entsprechend langsam kamen wir voran, und die Fahrt nach Newgate erschien mir wie eine quälende Ewigkeit. Immer wieder fragte ich mich, was mein rätselhafter Traum wohl zu bedeuten hätte, und je näher wir den tristen Mauern von Newgate kamen, desto mehr wuchs meine Unruhe. Ich konnte es kaum erwarten, Kamal zu sehen und mich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Ich fühlte, dass Unheil bevorstand – zu Recht, wie ich schon bald erkennen sollte …
G EFÄNGNIS VON N EWGATE
M ORGEN DES 26. S EPTEMBER 1884
In rascher Folge hallten die Schritte Sarah Kincaids und ihres Begleiters von der niederen Gewölbedecke wider.
Es war derselbe Wärter, der sie auch am Vortag eskortiert hatte, sodass sich Sarah nicht mit langen Erklärungen hatte aufhalten müssen. Auf Vorzeigen des Schreibens hin, das Milton Fox beim Justizministerium für sie erwirkt
Weitere Kostenlose Bücher