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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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ein leichter Schwindel ihrer bemächtigte, begleitet von einem Gefühl der Wärme und von einer inneren Gelassenheit, die sie als wohltuend empfand.
    »Ich danke Ihnen, Sir Jeffrey«, sagte sie deshalb und erhob sich. »Nicht nur für das Essen, sondern auch für Ihren Rat und Ihre Hilfe.«
    »Wozu sind Freunde da?«, fragte der königliche Berater und stand ebenfalls auf. »Wünschen Sie sich schon zurückzuziehen?«
    »Bitte verzeihen Sie, ich möchte nicht unhöflich erscheinen – aber es war ein langer Tag, und ich möchte morgen möglichst früh wieder zu Kamal.«
    »Sind Sie sicher?«
    Als Sarah die ehrliche Besorgnis im Gesicht des Freundes bemerkte, konnte sie nicht anders, als zu lächeln. »Es mag ein schwerer und in mancher Hinsicht anstrengender Tag gewesen sein«, gestand sie, »aber das bedeutet nicht, dass ich nicht alles tun werde, um Kamal vor dem Strick des Henkers zu bewahren. Ich habe ihm mein Wort gegeben, und daran werde ich mich halten.«
    »Ich verstehe.« Sir Jeffrey nickte, und diesmal war er es, der verhalten lächelte. »Ihr Vater wäre stolz auf Sie.«
    »Danke, Sir Jeffrey. Es bedeutet mir viel, dass Sie das sagen.«
    »Es ist die Wahrheit. Die meisten Väter wünschen sich Söhne, die ihre Nachfolge antreten und sich ihres weltlichen Erbes als würdig erweisen. Gardiner jedoch wurde noch ungleich großzügiger beschenkt, denn an Mut, Unerschrockenheit und Loyalität stehen Sie ihm in nichts nach und vereinen zudem noch Klugheit und Schönheit in sich. Fürwahr eine seltene Verbindung.«
    »Haben Sie vielen Dank«, entgegnete Sarah und beugte ein wenig beschämt das Haupt. Sie wartete, bis einer der Diener den Stuhl zurückgezogen hatte, dann trat sie vom Tisch zurück. »Gute Nacht, Sir Jeffrey.«
    »Gute Nacht, Sarah. Schlafen Sie wohl – und unbehelligt von den Schatten der Vergangenheit.«
    »Das wäre schön«, entgegnete sie. Dann wandte sie sich ab und verließ das Speisezimmer. Sie hörte noch das Seufzen, mit dem sich Sir Jeffrey wieder an der Tafel niederließ, und wie er seinen Diener nach Scotch und Tabak schickte.
    Sie bedauerte es von Herzen, Jeffrey Hull, der nicht nur ihr, sondern auch schon ihrem Vater ein guter Freund gewesen war und zusammen mit diesem in Oxford studiert hatte, Sorge zu bereiten. Sie hätte ihn lieber aus einem erfreulicheren Anlass besucht oder ihn bei sich zu Hause in Kincaid Manor empfangen. Aber was geschehen war, war nun einmal geschehen; die Zeit ließ nicht zurückstellen, und sie arbeitete gegen sie …
    Sie steht am Ufer.
    Obwohl sie nur ihr leichtes Nachtgewand trägt und bis zu den Knöcheln im kalten Wasser steht, das um ihre nackten Füße plätschert, friert sie nicht. Insgeheim weiß sie, dass sie nicht wirklich an diesem Ort weilt, dennoch lässt sie sich von der Majestät der kargen Landschaft fesseln: hohe Berge mit kahlen, schneebedeckten Gipfeln; Wälder, deren Bäume sich herbstlich verfärbt haben und aus denen einsame Felsentürme ragen.
    Sarah weiß nicht zu sagen, ob es früher Morgen oder später Abend ist. Die Sonne, die als gelb leuchtende Scheibe über dem nahen Horizont steht, hat den Himmel in ein orangerotes, von Blau und Lila durchsetztes Farbenmeer verwandelt, durch das funkelnde Sterne blitzen. Ohne die Himmelsrichtungen zu kennen, ist es unmöglich festzustellen, ob das atemberaubende Schauspiel am Firmament den Ausklang des alten Tages markiert oder den Anbruch eines neuen, ob es für Ende oder Neubeginn steht.
    Noch mehr Wind kommt auf. Er fährt in ihr Haar und zerrt an ihrem Nachthemd – und trägt Stimmen an ihr Ohr. Klagende Laute, die voller Schmerz und Trauer sind …
    Auf der Suche nach dem Ursprung der Stimmen schaut sich Sarah um – und erkennt, dass sie am Ufer des Flusses keineswegs allein ist. Eine Prozession, die bald näher, bald weiter entfernt scheint, bewegt sich über das breite Kiesbett auf den Wasserlauf zu. Voran gehen vier Krieger – hünenhafte Gestalten, die mit langen Speeren bewaffnet sind und mit Rosshaar verzierte Helme tragen. Ihnen folgen sechs Männer, die eine Bahre mit einem Leichnam tragen. Daran schließt sich ein Zug von Trauernden an, die dem Toten das letzte Geleit geben.
    Beklommen schaut Sarah zu, wie der Zug das Ufer erreicht und die Träger die Bahre abstellen. Einer der Krieger tritt vor und spricht einige Worte in einer fremden Sprache, die Sarah nicht verstehen kann. Dann stößt er in sein Horn, dessen Ton hohl und schaurig durch das Tal schallt. Augenblicklich

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